Thelma – Kritik

Das erste Leinwandwunder eines düsteren Kinowinters. Joachim Triers Body-Horror-Melodrama Thelma scheint auf den ersten Blick wie eine Variation auf Carrie, erweist sich aber eher als filmisches Gegenstück zu einer anderen Stephen-King-Verfilmung.

Eine Jagdszene in klirrender Kälte: Stoisch pirscht sich der Mann in Richtung seiner Beute, die kleine Tochter begleitet ihn. Konzentration und Anspannung im Gesicht des Jägers, als er scheinbar das Rotwild anvisiert. Doch die Mimik verfinstert sich, als er so allmählich wie vehement die Zielrichtung ändert. Der Vater nimmt sein Kind ins Fadenkreuz.

Dysfunktionale Familien

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Die Eingangssequenz von Joachim Triers Thelma ist Vorbote eines düsteren Kinowinters, der beinahe zwanghaft immer und immer wieder die dramatischste aller Zuspitzungen heraufbeschwört: Väter erwägen die Tötung der eigenen Kinder. The Killing of a Sacred Deer und It Comes at Night sind zwei Dystopien dieses Winters, die es als zugespitzte sozialphilosophische Analysen dysfunktionaler Familien durchaus auch auf die Provokation ihres Publikums anlegen. Bei Thelma, ebenfalls Familientragödie griechischer Dimension, verhält sich die Lage anders. Die Coming-of-Age-Variante ordnet alles der charismatischen Titelfigur unter. Die Geschichte entwickelt sich konsequent aus ihrem psychotelekinetischen Religions-Body-Horror-Melodrama.

Genrelogik: Carrie vs. Pennywise

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Thelma in diesem Kontext als eine Variante von Carrie (1977) zu betiteln, ist naheliegend, doch längst nicht hinreichend. Dessen Vorlagengeber Stephen King ist vor allem deswegen der „Master of Horror“, weil er häufig äußerst effektiv an Urängste appelliert. Andy Muschiettis Es, der erfolgreichste Horrorfilm seit langem, lebt in dieser Hinsicht ganz von seinem literarischen Ausgangsmaterial. Rein audiovisuell und cinepoetisch ist dieser Blockbuster ein Paradebeispiel postmoderner Mainstream-Genrelogik. „Es“ ist die Manifestation des Monsters, das nach Noël Carroll das Genre konstituiert. Der Horror wird dabei von innen nach außen verlegt, sichtbar gemacht. Die inneren Dämonen werden zu äußeren und bekommen ein animiertes Antlitz. Was ästhetisch und dramaturgisch wie technisch aufgepepptes Pappmaché aus der Mottenkiste daherkommt. Pennywise genügt die Clownsmaske nicht mehr. Seine Augen funkeln in künstlichstem Digitalamphibiengelbgrün. Und die Zahnreihe lässt sich ebenso computergeneriert alienesk ausfahren. Wann immer sich Schreckliches anbahnt, hat die Tonspur den beliebt-bekannten Soundeffekt parat. Zugleich ist „Es“ die Manifestation des Monsters, wie Noël Carroll es als Genrevoraussetzung nennt.

Sensationelle Sinnlichkeit

Thelma bietet sich nahezu als kinematografisches und genrephilosophisches Gegenstück an. Trier knüpft an jene Linie des Horrorfilms an, die von Psycho (1960) und Wenn die Gondeln Trauer tragen (Don’t Look Now, 1973) geprägt wurde. Das Un-Heimliche und das Fantastische entwachsen dort der menschlichen Konstitution. Das Monster sind wir selbst.

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Trier nähert sich dem Dreieck Urangst – Übernatürliches – Horror mit den Mitteln des poetischen Realismus. Durch den Verzicht auf nahezu jegliche technische Horrorkonvention gewinnt er sowohl dem Drama des Mädchens als auch dem Schrecken der Geschichte eine verblüffende Natürlichkeit und Notwendigkeit ab. Für jeden Moment des Übernatürlichen findet der Regisseur Bilder fernab des Genrealphabets. Zusammengehalten werden diese Augenblicke weitestgehend durch das Motiv des Wassers. Der Horror bricht nicht nur in die Natur ein, er ist Teil der Natur. Das alttestamentarisch wie filmhistorisch erprobte Motiv der Vögel als Vorboten oder Inkarnationen des Schreckens gewinnt bei Trier eine neue Dimension. Es sind die Orte des alltäglichen studentischen Lebens – Vorlesungssäle, Bibliotheken, Wohngemeinschaften oder Clubs –, in denen Thelma seinen Horror aus dem Bekannten entwickelt und ins Unheimliche überführt. Dabei erreicht der Film eine sensationelle Sinnlichkeit. Neben einer betörenden, leinwandberstenden Untersuchungsszene ist dies insbesondere bei den Schwimmbadaufnahmen spürbar.

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Nicht nur auf dieser Set-Motiv-Ebene gibt sich Thelma als eine Fortführung von Triers Meisterwerk Oslo, 31. August zu erkennen. Auch die sensible Einfühlung in ihre adoleszenten Figuren verbindet beide Filme und generell das Werk des Norwegers. Denn Thelma transzendiert nicht nur das Horror-Genre, sondern erzählt auch eine der intensivsten Liebesgeschichten vergangener Kinojahre. Wie Abdellatif Kechiches Blau ist eine warme Farbe (La vie d’Adèle, 2013) nimmt Thelma bedingungslos die Perspektive seiner weiblichen Hauptfigur ein und schenkt ihr den Freiraum, eine gleichgeschlechtliche Liebe von großer erotischer Dringlichkeit fernab von Allgemeinplätzen zu durchleben. Verbindendes Element beider Filme ist zudem ihre so eigenwillige wie effektive Rhythmisierung. Thelmas elegante Montage konzentriert sich immer auf das Wesentliche, ohne Abschweifungen, und generiert einen Fluss, der sich im archaischen Finale konsequent entlädt.

Thelma durchdringt Familien-Horror, Coming-of-Age-Geschichte und Lovestory, um als pure kinematografische Kraft sein Publikum zu affizieren, wie es schon lange kein Film mehr geschafft hat. Der grausame düstere Kinowinter hat sein erstes Leinwandwunder!


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Kommentare


fifty

Fand den Film echt gutes Kino, nur die vielen langsamen Zooms, die man aus dem Horrorgenre kennt, wirkten ein wenig überstrapaziert. Auch störte mich das manchmal zu fotomodellhafte Spiel der beiden Hauptdarstellerinnen in Zweierszenen. Der Code „süßes Lächeln“ wirkte teilweise einfach überzuckert oder der Code „strenger Blick“ deplatziert. Deshalb reicht für mich der Film zu keinem Zeitpunkt an die subtilen Schwingungen von "la vie d`Adèle" von Kechiche heran, wenngleich er natürlich daran erinnert. Thematisch ploppte bei mir außerdem noch „Requiem“ von Hans-Christian Schmid auf. Poetisch konnte ich nicht umhin, an den dänischen Namensvetter des Regisseurs zu denken.






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