The Visitor – Kritik
Eat out the rich: Bruce LaBruce bereitet Pasolinis Teorema (1968) über einen Fremden, der die Mitglieder einer großbürgerlichen Familie verführt, für die Gegenwart auf und bleibt dabei dem Punk treu. The Visitor ist konfrontativer und plakativer, aber auch utopischer als seine Vorlage.

Aus einem angespülten Koffer steigt ein nackter, schwarzer Mann (Bishop Black), der anschließend seltsam entrückt durch London wandelt. Dem titelgebenden Besucher folgen über die Stadt verteilt weitere identische Männer, während aus dem Off ein Zusammenschnitt einer absurd rassistischen Rede des britischen Politikers John Enoch Powell erfolgt.
Ohne doppelten Boden

Um diese Anfangssequenz mit einer Migrationsthematik kurzzuschließen, braucht es keine ausgedehnte Filmanalyse. Wer mit den bisherigen Filmen von Bruce LaBruce vertraut ist, wird aber ohnehin keine minutiös ausgearbeitete Arthouse-Doppelbödigkeit erwarten. Seine Filme haben schon immer im Modus von Punkparolen gearbeitet und diesen explizite Sexdarstellungen beigemischt. In The Visitor ist dieses Verfahren in einen anstrengenden, aber auch interessanten Exzess ausgeartet.

Im weiteren Verlauf folgt der Film in Bildzitaten wie im Handlungsgerüst dem Versuchsaufbau von Pier Paolo Pasolinis Teorema (1968). Das bedeutet konkret, dass der Besucher die Lebenswelt einer wohlhabenden Familie betritt, dort nacheinander jedes einzelne Mitglied verführt und so deren Selbstverständnis und Machtpositionen aufbricht. Doch wo bei Pasolini die Arbeiterklasse zum Fetischobjekt der Bourgeoisie wird, verbindet Bruce LaBruce Queerness, Xenophobie und Klassismus miteinander. Der Besucher ist dabei eine paradoxe Figur. Einerseits verkörpert er die konservativen Ängste vor einem potenten, muskulösen Migranten, der ein heteronormatives und christlich geprägtes Sexualverhalten hinterfragt, und andererseits wird er genau deshalb zu einem exotisierten Objekt des Begehrens. Dieses widersprüchliche Verhältnis ist vielleicht die einzige Ambivalenz, die sich der Film erlaubt. Wenn der Besucher, sichtlich amüsiert, der offenbar ahnungslosen Familie seine Exkremente und sein Blut als Dinner servieren lässt, kippt das Machtverhältnis bald darauf wieder um. Die eigentlich ekelerregende Widerstandsgeste wird von der Familie fetischisiert, das Verspeisen der Ausscheidungen als lustvolle Fressorgie inszeniert.
Radikal eindimensional

Spätestens an dieser Szene wird deutlich: Bruce LaBruce ist wieder auf Provokation aus. Doch mittlerweile sieht sich der Filmemacher mit einem Problem konfrontiert. Was tun, wenn das gesellschaftskritische Erzählkino (The Menu, 2022, Triangle of Sadness, 2022 [LINK], Saltburn, 2023) oder auch Portale wie Onlyfans, Pornhub und Chaturbate explizite Darstellungen längst im Mainstream etabliert haben und dem Underground-Kino so seine Provokationsmittel streitig machen? Bruce LaBruce entscheidet sich, dem Punk treu zu bleiben, aus dessen Subkultur er sich als junger, schwuler Auteur entwickelt hat. Politik und Pornografie müssen also eine derart direkte und obszöne Verbindung eingehen, dass der Film für den Mainstream trotzdem inkommensurabel bleibt.

Die politische Haltung wird dem Publikum dementsprechend im aggressiven Strobo-Effekt in bildfüllenden Lettern entgegengeschossen: EAT OUT THE RICH / OPEN BORDERS, OPEN LEGS / FUCK FOR THE MANY, NOT FOR THE FEW. Abgewandelte Slogans der britischen Labour Party und politischer Widerstandsbewegungen, plakativ wie Pornografie selbst, direkt und oberflächlich. Am Analverkehr mit einem schwarzen Dildo, dessen oberes Ende sich zum Kreuz Jesu ausformt, gibt es nichts mehr auszudeuten. Sexszenen wie diese werden zu den treibenden Beats der britischen DJ Hannah Holland in einem ständigen Überbietungswettstreit aneinandergereiht.

Hier riskiert der Film wie jeder Porno, nicht alle gleichermaßen oder überhaupt zu erregen. Wo es im digitalen Konsum normal geworden ist, diese Szenen einfach zu skippen oder den Content zu wechseln, muss die eventuell aufkommende Langeweile im Kino ertragen werden, da den Sexszenen keine weitere Bedeutungsebene untergeschoben wird. In der einzigen längeren Dialogszene verfällt der Film ins Gegenteil und erzählt seine politische Botschaft durch die Figuren einfach runter. Das ist natürlich konsequent, wird aber ziemlich dröge, wenn in Monologen ausgeführt wird, wie der Besucher jedes einzelne Familienmitglied sexuell befreit hat, worin ihre Vorurteile bestanden haben, worauf sie jetzt politisch zusteuern und so weiter.
Dabei nimmt sich The Visitor einerseits nicht ernst genug, um eine tatsächliche Lust zu evozieren, die einen mit den eigenen moralischen Vorbehalten konfrontieren würde. Und er ist andererseits nicht grotesk oder parodistisch genug, um im Lachen über sich selbst sein eigenes Schwarzweißdenken zu überwinden. Doch wo die Pornoszenen das Problem nicht wirklich lösen können, setzt ihm Bruce LaBruce durch das Casting eine eigene Utopie entgegen.
Sexuelle Revolution

Denn die Familienmitglieder werden durch die sexuelle Befreiung letztlich das, was sie in ihrer Erscheinung und abseits ihrer Rollen schon von Anfang an waren: Crossdresser, Pansexuelle, Transpersonen, queer, kinky und fluid. So wird die Figur der Tochter, die durch ihr Verhalten als Teenager angelegt scheint, beispielsweise von Ray Filar, einer transmaskulinen Theaterdramaturgin und Autorin, gespielt, die das Kleidchen tragende und mit dem Smartphone verwachsene Mädchen wesentlich älter, mit Bartwuchs, Piercings und Tätowierungen auftreten lässt. Gleiches gilt in Variationen für die gesamte Familienbesetzung. Die Londoner Performer haben sich im wahren Leben einem sexuellen Befreiungskampf gegen tradierte Normen verschrieben, der ihren Figuren erst noch bevorsteht. Bruce LaBruce setzt durch diese Entscheidung das Ende seines Films gewissermaßen auch an den Anfang. In seinem Filmkosmos hat die von ihm propagierte sexuelle Revolution längst begonnen.
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