Vom Nachteil geboren zu sein – Kritik
VoD: Die Fähigkeit zu erinnern als Nachteil des Geborenseins. Sandra Wollners Science-Fiction-Film Vom Nachteil geboren zu sein treibt uns die Vorstellung aus, dass Androiden träumen können.

Könnten Androiden nicht von elektrischen Schafen träumen, blieben sie uns sehr fremd. So tragisch es ist, was etwa Roy Batty in Blade Runner (1982) oder David in A.I. (2001) widerfährt, wir würden uns nicht wünschen, dass sie doch nur Maschinen ohne eigenes Bewusstsein sind. Wir wollen, dass es empfindende, reflektierende Wesen mit einer eigenen Perspektive sind – liegt die Pointe solcher Stoffe doch oft darin, dass sich die Maschinen als „menschlicher“ erweisen als ihre Homo-sapiens-Antagonisten. Selbst beim Raumschiffcrew-Killer HAL sähen wir, wenn er vor seiner Abschaltung zu einem verängstigten Computer-Kleinkind regrediert, unser aufkeimendes Mitgefühl ungern an ein herunterfahrendes Betriebssystem verschwendet.
In Vom Nachteil geboren zu sein (The Trouble with Being Born) ist das anders, paradoxer. Einerseits suggeriert der Film, aus der Perspektive eines kindlichen Androiden erzählt zu sein, andererseits treibt er uns die Annahme, dass hinter dieser Perspektive ein Bewusstsein steht, förmlich aus. Und lässt uns fragen, ob das schrecklich ist oder erleichternd, dass Elli/Emil (Lena Watson) nur ein seelenloser Speicher ist, der ungerührt ein Programm abspult. Dystopisch ist die Welt, die Sandra Wollner in ihrem zweiten Film zeichnet, so oder so – wer hier geboren ist, hat definitiv Trouble. Aber es scheint, als würde der sprechende Filmtitel die Hauptfigur am wenigsten tangieren. Andernfalls würden wir Zeugen eines Missbrauchs, für den es noch keine juristische Kategorie gibt. So nur Zeugen vereinsamter Erwachsener, die sich mittels einer Kinderpuppe an eine verlorene Zeit klammern.
Haben wir richtig gesehen?

Zu Beginn erklingen Wortfetzen und elektronische Störgeräusche vor verschwommener Mehrfachbelichtung, als müsste die Perspektive sich erst eintakten, oder als wäre hier schon etwas defekt. Dann fährt eine lange Subjektive durch den Wald, im Voice-over eine Mädchenstimme, die von ihrer Mutter erzählt und davon, dass sie die Grillen um den Schlaf bringen. Doch der POV-Shot gehört gar nicht ihr, fährt vielmehr langsam auf ihren Körper zu, der vor einem Swimmingpool kauert. Wem gehört er dann? Der Film ist voll solcher Irritationen, kleiner Verschiebungen filmsprachlicher Konventionen, die uns die Sicherheit nehmen, Assoziationen anschubsen. Ein blendend schöner Sommertag, ein opulentes, etwas verlottertes Anwesen am Rande Wiens – eine unheimliche, somnambule Aura liegt über den Bildern, noch bevor wir das zu glatte, zu maskenhafte Gesicht des Mädchens erstmals sehen. Den Mann, der mit ihr am Pool liegt, nennt sie Papa, er nennt sie Elli.
Als sie einmal leblos auf dem Wasser treibt, reagiert Papa Georg (Dominik Warta) eher genervt als alarmiert („O nein, nicht schon wieder“), trägt sie in Seelenruhe in die Küche und … repariert sie. Nimmt ihr die Zunge heraus, die Kamera wirft aus der Distanz einen Blick auf eine künstliche Öffnung zwischen den Beinen. Solche Szenen, wie auch das spätere Auswechseln des Gesichts, ziehen ohne jedes Aufheben an uns vorbei, haben wir richtig gesehen? Eher in Fragmenten als in einer linearen Erzählung erfahren wir von Georgs und Ellis Zusammenleben, müssen sehen, wie sie nackt vor ihm posiert, das weiße Negligé anprobiert, das er ihr mitgebracht hat, eng umschlungen mit ihm in einem Bett schläft. Bald erfahren wir, dass es mal eine reale Elli gab, die vor zehn Jahren verschwunden ist. Ob das damalige Vater-Tochter-Verhältnis ebenso inzestuös war wie das, das die beiden nun vor uns simulieren, bleibt offen, extrem unangenehm anzusehen ist das Puppenspiel in jedem Fall – ob es ethisch fragwürdig ist, müssen wir mit uns selbst ausmachen, der Film enthält sich jeder Wertung. (Das Filmfest Melbourne nahm ihn wegen des Vorwurfs, Pädophilie zu normalisieren, aus dem Programm.)
Sinnentleerte Loops

„Mutter würde das nie erlauben, aber sie muss ja nicht alles wissen“, sagt Elli einmal und: „Ich bleibe für immer bei dir“ und „Du riechst nach Sonnencreme und Zigaretten.“ Je öfter sie solche Sätze sagt, desto leerer klingen sie, aber ihm scheinen sie zu gefallen. Nur das Antrainieren von Erinnerungen erweist sich als schwierig, ihre Gedächtnislücken trüben seine Stimmung. Erst auf den zweiten Blick bemerkt man einmal, dass das Mädchen plötzlich ein bisschen anders aussieht, lebendiger, ist die echte Elli (Jana McKinnon) zurückgekehrt? Kurz darauf läuft die Androidin bei Nacht davon, wie einst die echte Elli davonlief, wie ein Spuk steht im Wald kurz ihre Doppelgängerin vor ihr. Man sieht diese Bilder, wie man sich an einen Traum erinnert.
Bald darauf wird Elli zu Emil werden, der Schauplatz wechselt in einen Wohnblock in der Innenstadt, nach den unwirklich hellen Sommerszenen ist nun alles gedeckt und grau. Eine tastende Bebilderung von Lebenswelten, Gefühlszuständen hier wie dort, die Kameramann Timm Kröger im 4:3-Format vornimmt; bei aller Tristesse ein visuell teils betörend schöner Film. Die zunächst unwillige neue Besitzerin, eine alte Dame (Ingrid Burkhard), will in eine noch tiefere Vergangenheit zurück als Georg, ihr kleiner Bruder, an dessen Stelle die Maschine tritt, ist bereits seit sechzig Jahren tot. Auch weil für Emil die – schon selbst erratische – Elli-Programmierung offenbar nicht fehlerfrei geupdatet wurde, wird er Frau Schikowa fremd und unheimlich bleiben, als er sie küsst, stößt sie ihn angewidert von sich. Die Sprach- und Handlungsversatzstücke des Androiden, teils identisch mit denen in der ersten Hälfte, teils auf Frau Schikowa zugeschnitten, erweisen sich endgültig als sinnentleerte Loops.
„Anti-Pinocchio“

Ungeachtet der ethischen Implikationen steht fest, dass das, was die menschlichen Besitzer mit ihrer Maschine anstellen, sie selbst nicht glücklich macht. Sie wollen mit ihr eine Vergangenheit greifbar machen, die sich ihnen doch immer entzieht. Möglicherweise sind nicht nur die „Erinnerungen“ ihres Androiden nur ein fehleranfälliges Programm, sondern schon ihre zugrunde gelegten eigenen Erinnerungen nur hoffnungslos gegenwärtige Impulse. Am Ende wird sein antrainiertes Gedächtnis in beiden Fällen dazu führen, dass der Android das traumatische Ereignis, das er rückgängig machen sollte, noch einmal nachspielt. Einen „Anti-Pinocchio“ hat Sandra Wollner diesen unbehaglichen Film genannt, und in der Tat, wie könnte Elli/Emil sich bei alldem danach sehnen wollen, Mensch zu werden? Wie könnten wir wollen, dass sie/er zu solcher Sehnsucht fähig ist?
Der Film steht bis 07.12.2021 in der ZDF-Mediathek.
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