Il Traditore - Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra – Kritik

VoD: Marco Bellocchio schildert in Il Traditore die reale Geschichte des wichtigsten Zeugens während der Mafia-Prozesse der 1980er und 90er Jahre und entwirft ein breites historisches Panorama – die größte Dramatik entfaltet dabei ein Schnurrbart.

Am Ende von Marco Bellocchios The Traitor bündelt sich das Schicksal von Tommaso Buscetta in seinem Schnurrbart. Der ehemalige Mafioso, der ab den 1980er Jahren zum Kronzeugen des Staats bei mehreren Verfahren gegen die sizilianische Cosa Nostra wurde, muss Mitte der 90er zu einer weiteren Aussage vor Gericht erscheinen. Das Alter, die Müdigkeit und die zunehmende Erschöpfung nach vielen Jahren im Getriebe des Justizsystems spiegeln sich dabei nicht etwa in Tommasos Blick und auch nicht in seinen Worten oder dem Tonfall seiner Sprache, sondern in dem schweren, schmucklosen Haarschwulst, der sich auf seiner Oberlippe wölbt.

In einer späteren Szene sitzt Buscetta allein auf einem Dach, zusammengesunken auf einem Klappstuhl und plötzlich wieder ohne Bart. Das Fehlen dieses zuvor so melodramatisch aufgeladenen Gesichtsmerkmals hat eine unmittelbar verunsichernde Wirkung – es muss etwas Traumatisches geschehen sein, was diese tiefgreifende Verwandlung seiner äußeren Erscheinung wieder rückgängig gemacht hat. Buscettas tödliche Krebserkrankung äußert sich zunächst als rein visueller Verlust – und diese symbolhafte Lesbarkeit wirkt unmittelbar emotional auf eine Art, die dem Rest von Bellocchios Film größtenteils abgeht.

Ein Medienereignis ohne Publikum

Man kann sich natürlich fragen, ob es Bellocchio überhaupt auf eine solche Emotionalität angelegt hat. Gerade zu Beginn, als die Anfänge des großen Mafiakriegs auf Sizilien während der frühen 80er Jahre geschildert werden, füllen immer wieder ausschweifende Texteinblendungen mit allerlei Namen und Daten das Bild. Der Film ist darauf bedacht, die Ereignisse fest in der Realität zu verorten, und liefert hierfür ein verwirrendes Übermaß an Koordinatenangaben. Auf diese Art betont The Traitor, dass er eine Vergangenheit verhandelt, die bereits umfassend kartografiert wurde. Der Film präsentiert sich als die Umformung oder vielmehr dramatische Ausformung bereits existierenden, emotional bereits erschlossenen Materials.

Nur auf welche Art die Mafiakriege und die nachfolgenden Gerichtsprozesse damals in ein umfassenderes gesellschaftliches und historisches Bewusstsein eingesickert sind, macht der Film nicht klar. Abseits von ein paar eingeschobenen realen Fernsehausschnitten aus der damaligen Zeit sind die dargestellten Ereignisse nie als Medienereignisse inszeniert – es fehlt in The Traitor schlicht die Öffentlichkeit, deren Reaktionen dem Geschehen seine eigentliche Bedeutsamkeit gaben.

Die größte Leerstelle des Films ergibt sich jedoch daraus, dass Bellocchio sich für die Abläufe und die inneren Strukturen und Zwänge des Justizverfahrens kaum zu interessieren scheint. Man sieht zwar die tumultartigen Zustände während des ersten sogenannten Maxi-Prozesses, als sich allerlei ranghohe Mafiamitglieder mit dem Richter höhnische Wortwechsel liefern oder auf andere Art den Fortgang der Verhandlung stören. Aber welche Rolle Buscettas Aussage innerhalb dieses Verfahrens genau spielt, welche Bedeutung sie für die Strategie der Staatsanwaltschaft hat und anhand welcher Faktoren sich ihre belastende Wirksamkeit entfaltet, bleibt vollkommen im Vagen. Buscetta tauscht erst mit einem angeklagten Mafiaboss ein paar persönliche Beleidigungen aus, und dann teilt uns irgendwann eine Texteinblendung mit, dass der Angeklagte eine hohe Haftstrafe erhalten hat. Der mühsame Weg vom einen zum anderen wird in Bellocchios Film konsequent ausgespart.

Das exemplarische Schicksal wird zum tabellarischen Lebenslauf

Immerhin ist The Traitor in seiner narrativen Breite visuell abwechslungsreich: von der intimen Atmosphäre eines Mafiatreffens in einem herrschaftlichen Kastell über die tropische Farbigkeit des Heroindrehkreuzes Brasilien bis zu der tristen Ödnis eines Autoladens in einer amerikanischen Kleinstadt. Aber Bellocchio kann sich nicht entscheiden, welche Perspektive er auf dieses reiche Material werfen will, und so schwankt der Film schwerfällig zwischen persönlicher Tragödie (inklusive Schreckensvisionen und Geistererscheinungen), historischem Panorama und Gangstermelodram hin und her.

Diese Unentschlossenheit ist am deutlichsten in den regelmäßigen Rückblenden zu spüren, in denen mehrere, für Buscettas Schicksal irgendwie relevante Ereignisse aus der Vergangenheit gezeigt werden. Statt eine neue Ebene zu eröffnen oder dem Gang der Handlung eine neue Grundierung zu geben, bebildern sie meistens nur das ohnehin schon Etablierte. Der Film sucht hier nach Schauwerten, nach Momenten intensiver Emotionalität, ist dabei aber meistens nur redundant.

Nur ab und zu durchbricht ein schmerzhaftes Drängen diesen immer stärker werdenden Und-dann-Duktus: Man spürt dann vor allem in der Insistenz, mit der Bellocchio die Geschehnisse in einen konkreten geschichtlichen Rahmen einordnet, welch großes Trauma die Auseinandersetzungen mit der Mafia in der italienischen Gesellschaft hinterlassen haben. Tommaso Buschetta wäre an sich eine ideale Figur, um sich mit diesem Trauma auseinanderzusetzen, verkörpert er doch gleichermaßen das Unheil wie seine Überwindung. Aber diese symbolische Zerrissenheit, die weit über eine einzelne Biografie hinausweisen würde, lässt The Traitor weitgehend außer Acht.

Der Film steht bis zum 28.05.2022 in der Arte-Mediathek.

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