The Temple Woods Gang – Kritik
Berlinale 2023 – Forum: Rabah Ameur-Zaïmeche interessiert sich in The Temple Woods Gang mehr für autarke und tranceähnliche Momente als für einen Genre-Spannungsbogen. Und doch ist sein Stadtviertel- und Ensemblefilm auch ein hartes Heist-Movie.

Ein ruhiger, von einem Plattenbaudach aufgenommener 360-Grad-Schwenk über die Wohnhäuser und Parkanlagen der titelgebenden Banlieue, Bois de Temple. So definiert der neue Film von Rabah Ameur-Zaïmeche gleich zu Beginn den Kosmos, den sein getragener Heist-Thriller auch später zu keinem Zeitpunkt verlassen wird. Doch bevor sich dessen Kriminalplot abzuzeichnen beginnt, versetzt uns The Temple Woods Gang (Le Gang des Bois du Temple ) in eine gänzlich privat anmutende Szenerie, deren Sinn uns zunächst verschlossen bleibt.
Auf die kreisende Panoramaaufnahme folgt ein Männergesicht in Nahaufnahme. Es wirft tiefe Falten und sieht so aus, als hätte es schon einiges miterlebt. Der Mann (Régis Laroche), um die fünfzig, raucht mit Blick vom Dach eine Zigarette, in seinem Gesicht zeichnet sich Trauer, vielleicht auch die Unruhe des Wartens ab. Unten fährt ein Krankenwagen vor. Kurz darauf tragen zwei Rettungssanitäter aus dem Schlafzimmer seiner Wohnung einen im Leichensack verstauten Körper heraus.
Der Film wählt dafür eine streng komponierte Einstellung, die in den schmalen Hausflur hineinfilmt, uns damit den Blick verwehrt, was im Zimmer vor sich geht. Der Mann der Profilaufnahme beobachtet die Profis vom Flur aus ins Off hinein, blickt dem weggetragenen Leichnam länger nach. Es gibt in dieser Szene kein Dialog und vor allem: keine Beileidsbekundung. Ein empathieloser Ort, denkt man – zumindest vorerst.
Bilder der Trauer

Nach dem Schnitt geht es emotionaler zu, nun bauen wir eine wirkliche Beziehung zum Gezeigten auf, registrieren nicht bloß physische Vorgänge, denen die Vermittlung fehlt. Es scheinen einige Wochen vergangen zu sein, in einem Kirchenraum wird die Trauerfeier abgehalten. Wie sich zwar noch nicht hier, aber kurz darauf herausstellt, war es die über achtzigjährige Mutter von Monsieur Pons, die gestorben ist. Pons wird über die gesamte Laufzeit hinweg keinen Vornamen und „Hauptfigurenstatus“ zugewiesen bekommen – und doch ist er das Gravitationszentrum des Films. Sein Gesicht löst sich in der Kirche nun in Tränen auf, der Pastor, der vor dem Zusammengekrümmten steht, legt sanft die Hand auf seinen Kopf.
Die Strenge der Eröffnungssequenz weicht direkter Emotionalität, ja etwas Sublimem. Von einem Organisten begleitet, performt eine alte Chansonsängerin ein religiöses Lied, die Kamera, die bislang das nachkriegsmodernistischen Kircheninnere in Halbtotalen ausmaß, rückt nun nah an das faltige, verinnerlicht ins Leere blickende Gesicht heran. Es ist die erste von zwei Musikeinlagen, die in The Temple Woods Gang – gegen Anfang und gegen Ende – den Lauf der sowieso bereits entschleunigten Story zum Stocken bringen. Ameur-Zaïmeche interessiert sich mehr für diese autarken, manchmal auch tranceähnlichen Momente als für den üblichen Spannungsbogen eines kommerziellen Genrekinos. Und doch ist sein Stadtviertel- und Ensemblefilm eben auch ein harter Heist-Film (wie man ihn im Forum der Berlinale so nicht unbedingt erwartet).
Bilder der Freude
Auf Szenen der Kontemplation folgen solche der Aktion. Die Figur des Monsieur Pons verschwindet von der Bildfläche, um später in einer Szene wieder aufzutauchen, die sein einsames, bloß durch den Nervenkitzel der Sportwetten aufgehelltes Leben mit einem Verbrechen verzahnt, das gerade in Bois de Temple seinen Lauf nimmt. Sechs Männer, mittelalt, sitzen auf dem Bordstein; bis auf einen Weißen, den anderen Helden des Films, Bébé (Philippe Petit), haben sie einen nordafrikanischen Hintergrund.

Als sie den vorbeikommenden Pons sehen, bitten sie ihn, sich zu ihnen zu setzen. Sie lassen das Leben seiner Mutter Revue passieren, eine gute Frau, mit einem guten Leben, da sind sie sich einig. Pons fühlt sich sichtlich wohl mit diesen Typen, die er schon Jahrzehnte kennt, wirkt leicht enttäuscht, auch etwas irritiert, als sie kurz darauf hastig in einen SUV steigen. Was sie vorhaben, fragt er. Sie müssen noch etwas erledigen.
Irgendwie haben sie Wind bekommen, dass ein saudischer Prinz sein Vermögen genau über die Schnellstraße transportieren lässt, die ihr Viertel durchkreuzt. Hier schlagen sie zu. Was bei ihrem letzten Planungstreffen noch wie ein (breitbeiniger) Tagtraum unter Kumpels anmutet, wird ab dem Zeitpunkt, wo die „Gang“ großkalibrige Waffen aus einer Autowerkstatt irgendwo im Industriegebiet trägt, Ernst. Alles geht glatt, kein Blutvergießen, keine Pannen, kindliche Freude über den Coup. Mehrere Koffer voller Bargeld – und einer mit Geheimdokumenten.
Bilder der Härte
Vor allem diesen Koffer will der Prinz zurück. Mit leerem Blick sitzt er in einem thronähnlichen Stuhl, trägt den traditionellen Qamis und spielt apathisch an einer Perlenkette herum. Es ist eine aus Zeit und Raum gefallene Figur, fast mystisch. Sein Körper wirkt derart geschwächt, er hat Mühe, eine getrocknete Dattel aus einem Schälchen vor sich zu greifen. Es passt zu diesem unnahbaren Antagonisten, dass er in einer späteren Szene mit eben diesem Körper in eine ekstatische Disco-Performance eintritt. Doch vor alledem engagiert er einen Profi, der die Räuber aufspüren und die Ordnung wiederherstellen soll. Auch dessen Erscheinung entspricht nicht dem Bild, dass man von solchen Typen hat – er wirkt nicht wie gecastet. Das ist etwas, was auch alle anderen Filmgesichter auszeichnet.
Nun setzt sich ein unerbittlich tickendes Uhrwerk in Gang. Die sechs Freunde aus dem Viertel geraten ins Visier. The Temple Woods Gang findet hierfür eine präzise Erzählform, die etwas von der Prädestination und Klarheit der Melville’schen Unterwelten hat. Und auch wenn Ameur-Zaïmeches Actionszenen (nicht zuletzt durch das wuchtige Sounddesign) doch mal aus der Leinwand herausgreifen, bleibt sein Film dieser gebauten, vom Bild her gedachten Ästhetik letztlich treu.
Mit entmenschlichter Abstraktion oder kalkulierter Kälte hat das wenig zu tun. The Temple Woods Gang liebt seine Figuren (durch die Präzision hindurch). Vor allem empfindet er Zuneigung zu Monsieur Pons, den stillen Einzelgänger mit dem durchfurchten Gesicht und den traurigen Augen. Dem wiederum bedeutet die titelgebende Gang mehr und mehr, wird so etwas wie eine Ersatzfamilie. Bilder der Geborgenheit und der Freundschaft, der Trauer und der Härte, Bilder des (Über-)Lebens und des Todes.
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