Colonos – Kritik

Neu auf MUBI: Mit viel stilistischem Eigensinn, teils brutal eindrücklichen Szenen und einem einzigartigem Setting in rauer Natur erzählt der Neo-Western Colonos von der Grausamkeit, mit der der Süden Lateinamerikas kolonialisiert wurde.

Grenzen werden in Blut gezogen. Wortwörtlich. In der Eröffnungsszene von Felipe Gálvez Haberles Colonos schuften Männer in der unbehausten Einöde Feuerlands, am Südzipfel Chiles. Es ist der Beginn des vergangenen Jahrhunderts. Kleine Punkte bewegen sich in unermesslichem, schroffem Land. Mattgelbes Heidekraut, dunkelgraue Felsen, pfeifender Wind. Sie bauen einen Zaun. Mit einer quietschenden Vorrichtung wird Draht von Pfosten zu Pfosten gespannt. Plötzlich ein schnalzendes Geräusch. Dann liegt einer von ihnen mit abgetrenntem Arm in einer Lache Blut. All das beobachtet Segundo (Camilo Arancibia), einer der Arbeiter, mit weit aufgerissenen Augen. Und er beobachtet weiter, zunehmend ungläubig, wie ein Aufseher in der blutroten Uniform britischer Truppen angeritten kommt und dem hilf- und nutzlos gewordenen Verletzten in den Kopf schießt. Die Arbeit geht weiter.

Das weiße Gold

Direkt in der ersten Minute hat Haberle die Grundbausteine gelegt, aus denen er seinen kolonialismuskritischen Neo-Western bauen wird: Schrecklich-erhabene Panoramen subpolarer Wildnis. Die jederzeit drohende Grausamkeit der weißen Siedler. Und der panische, gepeinigte, starrende Blick Segundos. Totalen aufs Land, eruptive Brutalität und Close-ups auf die meist schweigende Hauptfigur. Segundos Blick ist nicht kontemplativ, nicht regungslos, sondern gequält, flackernd, voller Angst. Jederzeit könne es ihn treffen. Denn Segundo ist Mestize. Es sind Augen, die ein zukünftiges Trauma aufsaugen. Ein Blick, der von einem Tanz an der Grenze des Wahnsinns berichtet.

Der Wahnsinn der kolonialen Ausbeutung war und ist stets mit dem kühlen Kalkül kapitalistischer Ausbeutung verwoben. In Colonos sind es die Schafe, das weiße Gold, wegen denen die Siedler Zäune bauen und Indigene abschlachten. Der Schafbaron José Menéndez (Alfredo Castro) schickt Segundo mit dem erbarmungslosen Aufseher Alexander MacLennan (Mark Stanley) und dem Cowboy Bill (Benjamin Westfall) bald los, einen Weg von Feuerland an die Atlantikküste im Osten zu finden, eine neue Handelsroute zu erschließen. Es wird ein Trip mit zwei Völkermördern. Nicht zu trennen sind hier Entdeckergeist und Auslöschungswille – in der Region, in der der Schlächter und Welterschließer Magellan einst eine Passage zum Pazifik erkundete.

Wie schön dürfen Bilder des Grauens sein?

In seiner Urbewegung und seinem Vokabular folgt Colonos dem Western. Man sieht oft Männer auf Pferden in weitem Land. Männer, die ins Unbekannte vordringen. Aber diese scheinbare offene und freie Bewegung zieht unablässig Grenzen. Zwischen Mensch und Tier, Wildnis und Weidefläche. Zwischen Sprachen, zwischen Territorien. Einmal treffen die drei auf einen Trupp Landvermesser, die im Nirgendwo bestimmen sollen, wo Chile aufhört und wo Argentinien anfängt. Aus dem Off werden Kommandos auf Spanisch gebrüllt, während sich ein einsamer Helfer mit einem Zollstock abmüht.

Für Haberle ist das pure Absurdität, Slapstick am Ende der Welt. Colonos ist insgesamt ein direkter Film, der die koloniale Situation unmissverständlich anprangert, der sich nicht verrätselt, der Eindeutigkeit der Aussage ambivalenten Beobachtungen vorzieht. Und der damit wichtige Aufklärungsarbeit leistet, weil er vom realen Völkermord an den Selk`nam erzählt, den der historische MacLennan im Auftrag des historischen Menéndez maßgeblich zu verantworten hatte.

Und so ist von allen Grenzen, die der Film erkundet, die schrecklichste jene, die Bill und MacLennen zwischen sich und den Indigenen ziehen. In einer atmosphärisch und stilistisch stark akzentuierten, deutlich als Höhepunkt markierten Szene schlachten sie ein ganzes Dorf der Selk’nam ab. Ein Massaker im Morgennebel. Bilder voller Dampf und schemenhafter Bewegung, Schüsse, Schreie, stürzende Körper. Und dazwischen wieder Segundos berstende Augen. Er schießt in die Luft, verhindert nicht, tötet nicht, saugt aber alles auf.

Die Sequenz ist sehr genau geplant, sichtlich darum bemüht, Brutalität und Schrecken zugleich unmissverständlich zu machen und nicht unmittelbar zu zeigen. Aber in ihrer reinen technischen Virtuosität wirft sie eine Frage auf, die den ganzen Film durchzieht: Wie schön dürfen Bilder des Grauens sein? Was ist eine adäquate Darstellung schrecklicher Geschehnisse, und worin unterscheidet sie sich von ihrer Bebilderung, von ihrer Durchdringung? Immer wieder zeigt Colonos enormen Stilwillen und meisterhaften Umgang mit Klang, Textur, Farbe, Kader. Erzählerisch unsinnige, aber fast Tarrantino’eske Zwischentitel knallen manchmal über die Bilder. Die klassisch im Format 1.66 kadrierten Aufnahmen lässt Kameramann Simone D‘Arcangelo an den Rändern immer wieder unscharf ausfransen, fast so, als würde man durch ein Fernrohr schauen. Kurzum: Colonos ist stylisch. Jedes sorgsam anachronistische Bild ist Insta-tauglich.

Ungemein effektiv, for better or worse

Ab dem Massaker geht es auf den Pfaden von Apocalypse Now (Francis Ford Coppola, 1979) unablässig abwärts in den (post-)kolonialen Wahnsinn. MacLennan wird verrückt, weil er Segundos Blick auf sich spürt. „Your fucking eyes are judging me.“ Die Weißen wissen um ihre unsühnbaren Verbrechen, um ihre Schuld – aber sie können ihr Gewissen nur ertragen, indem sie es als Hass auf ihre Opfer richten. Gen Ende trifft die Gruppe auf einen ganz offensichtlich durchgedrehten schottischen Colonel (Sam Spurell), der ein Ahne von Colonel Kurtz sein könnte. Wer ihn als Engländer bezeichnet, wird abgeknallt.

In einem zwischen Grausamkeit und adligem Dünkel flirrenden Gebaren zeigt sich die heuchlerische Fratze des ach so zivilisierten Westens unverstellt. Aber ebenso zeigt sich die manchmal grobe, mit kalkulierten Schocks verfahrende Ästhetik von Colonos. Den grässlichsten Charakterzug des Colonels erkennt der Film nicht in dem Moment, als er einem Mann unvermittelt in den Kopf schießt. Sondern in der Nacht danach, als er einen anderen anal vergewaltigt. Irgendwie wirkt es, als wäre Homosexualität moralisch verwerflicher als Mord, als zeige sich der Abgrund westlicher Sittenlosigkeit eher in der Sodomie als in der tödlichen Grausamkeit. Das mag ein Detail sein. Aber es wirkt nach in diesem ungemein eindrücklichen, ebenso streitbaren wie diskussionswürdigen Film, bei dem offen bleibt, ob alle seiner kräftigen Schläge sitzen..

Den Film kann man bei MUBI streamen.

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Kommentare


ThomasM

Na, hier sind doch, wenn ich richtig sehe, zwei Abschnitte gleich doppelt vorhanden. Vermutlich wollte da jemand nur ein paar mehr schöne Bilder in der Rezension unterbringen. ;-)


Michael

Oh, danke für den Hinweis. Ist jetzt korrigiert.






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