Die Saat des heiligen Feigenbaums – Kritik
Staatsfernsehen oder Instagram? Der inzwischen aus dem Iran geflohene Regisseur Mohammad Rasoulof zeigt, wie die persische Diktatur Generationen spaltet und Familien zerreißt. Die Saat des heiligen Feigenbaums ist ein politisches Familiendrama, das zu einem rasanten Thriller wird.

Blut strömt über das Gesicht der Studentin. Die linke Seite ist stark geschwollen, in Teilen aufgerissen. Zerfetzt von Schrotkugeln, die immer noch unter ihrer Haut stecken. Ob ihr linkes Auge noch sehen kann, ob es überhaupt noch da ist, wissen wir nicht. Sie braucht dringend medizinische Hilfe. Doch in ihrem Land kann Sadaf (Niousha Akhshi) in dieser Situation weder ins Krankenhaus noch in eine Arztpraxis gehen. Man würde sie verhaften und irgendwo ins Gefängnis stecken. Sadafs Freundin Rezvan (Mahsa Rostami) fasst das so zusammen: „Sie nahmen ihr ihre Schönheit – und ihre Zukunft.“
Wacklige Videos ohne Schärfe
„Sie“, das sind die iranischen Sicherheitskräfte, die Mädchen wie Sadaf auf offener Straße mit Schlagstöcken verprügeln oder gezielt mit Autos anfahren, dann in Lieferwagen verschleppen oder ihre Leichen auf der Straße liegen lassen. All das sehen wir in authentischen Social-Media-Videos, die die Proteste nach der Ermordung Jina Mahsa Aminis zeigen. Der inzwischen nach Deutschland geflohene Regisseur Mohammad Rasoulof flechtet solche wackligen, vertikalen Handy-Videos immer wieder ein in die fiktionale Handlung von Die Saat des heiligen Feigenbaumes (Dane-ye anjir-e ma’abed). Den meisten dieser Videos hat er absichtlich die Bildschärfe genommen, um die abgebildeten Menschen vor der Rache des Justizsystems zu schützen.
Zu diesem Justizsystem zählt auch Iman (Missagh Zareh), der Vater von Rezvan und ihrer Schwester Sana (Setareh Maleki). Er hat das große Los gezogen und ist zum Ermittler befördert worden. Die Chancen stehen nicht schlecht, dass er bald sogar zum Richter aufsteigt. Deshalb trägt er nun eine Pistole mit sich herum, denn mit der Beförderung ist auch die Angst in sein Leben getreten – Angst vor Angriffen durch Oppositionelle. (Wer Tschechow, Griffith oder MacGuffins kennt, weiß, dass diese Waffe die Handlung bald beschleunigen wird.) Und deshalb müssen seine Teenie-Töchter nun den Hidschab viel enger wickeln als die meisten Iranerinnen, ihre Freundinnen nach Staatstreue aussuchen und sie dürfen keine „freizügigen“ Fotos mehr auf Social Media teilen – wobei „freizügig“ auch schon bedeutet, Nagellack oder kein Kopftuch zu tragen.
Das System stützen, um sich selbst zu schützen

Die erste Hälfte des Films erinnert stark an Rasoulofs Ein unbestechlicher Mann (Lerd, 2017): Wir sehen, wie Staatsdiener gegen ihr eigenes Gewissen handeln und zweifelhafte Urteile vollstrecken, um ihren eigenen Lebensstandard nicht zu gefährden. Iman und seine Frau Najmeh (Soheila Golestani) sind keine glühenden Anhänger der Theokratie, doch dem System gelingt es, sie zu vereinnahmen und zu Komplizen zu machen. Zur Not kann man sich ja immer mit „Befehlen von oben“ rausreden, die man auszuführen hat. Und wenn die Fragen der Töchter mal zu eindringlich werden, greift man einfach zum Totschlagargument: „Der Glaube kennt keine Fragen.“
Es ist genau dieser (familiäre und gesamtgesellschaftliche) Generationenkonflikt, der die erste Hälfte von Die Saat des heiligen Feigenbaums auszeichnet: Die Eltern gucken abends Staatsfernsehen, die Kinder Instagram, um sich durch Umgehen der Internetzensur auf Social Media zu informieren und dort mehr Informationen zu finden als durch die offiziellen Medien. In westlichen Gesellschaften mag das paradox klingen, in Autokratien wie dem Iran ist es Realität. Auch die Eltern – das macht Rasoulof mehrfach klar – wissen zwar, dass das System lügt. Doch sie verstecken ihre Zweifel vor den eigenen Kindern, um sie zu schützen. Sie schwingen Reden, die totale Überzeugung vorgaukeln, aber wenn Iman schlaflose Nächte erlebt oder Najmeh trotz Gefahr eine Geste der weiblichen Solidarität zeigt, dann wird klar, dass sie das System hauptsächlich stützen, da ihr Wohlstand von ebenjenem System abhängt. Umgekehrt heißt das für die Kinder: Wem kann man überhaupt noch trauen, wenn einen selbst die eigenen Eltern belügen?
Unverschleierte Schauspielerinnen
Diese erste Hälfte besteht auffälligerweise zum großen Teil aus Innenraumszenen und Dialogen. Der Grund ist einfach: Rasoulof hatte keine Drehgenehmigung und musste heimlich filmen. Ab und an bauen er und sein Kameramann Pooyan Aghababaei aber gezielt irritierende Bilder ein: Im Flur von Imans Bürogebäude stehen regungslose, gespenstische Wesen herum, die mal aus Pappmaché sind und mal aus Fleisch und Blut. Vielleicht sind es sogenannte Märtyrer (im Iran gelten unter anderem die Personen als Märtyrer, die im Krieg gegen den Irak gestorben sind) – vielleicht sind es auch die Geister der vom Staat Getöteten. Als Amin seine Arbeitsstätte per Auto verlässt, sind die Straßenwände dermaßen hoch, dass die ganze Stadt wie ein Kerker wirkt und man an die Autofahrt des Henkers aus Rasoulofs Doch das Böse gibt es nicht (Sheytan vojood nadarad, 2020) denkt.

Vor allem aber fällt eine Radikalisierung auf, die die spätere Flucht Rasoulofs vielleicht schon andeutet: Hatten sich seine letzten Werke trotz aller politischen Kritik meist an die Bekleidungsvorschriften der iranischen Filmzensur gehalten, so sehen wir diesmal Frauen, die – wie zuletzt auch in Ein kleines Stück vom Kuchen (Keyke mahboobe man, 2024) von Maryam Moghadam und Behtash Sanaeeha, oder in Ali Ahmadzadehs Critical Zone (Mantagheye bohrani, 2023) – in der eigenen Wohnung kein Kopftuch tragen. Das mag selbstverständlich und naturalistisch erscheinen, doch in den allermeisten iranischen Filmen ist das nicht möglich, weil die persische Theokratie verbietet, Schauspielerinnen ohne Kopfbedeckung zu zeigen.
Parasitärer Wuchs
Es ist ein anderes Bild, das nach rund 90 Minuten den zweiten Teil des Films einläutet: Wir sehen jemanden in einem klaustrophobisch engen, fensterlosen Verhörraum sitzen – mit einer recht weit oben aufgesetzten Augenbinde, damit sie zwar ein Geständnis zu Papier bringen kann, aber nicht sieht, wer sie verhört. In dieser zweiten Hälfte entwickelt sich aus dem politischen Familiendrama plötzlich ein rasanter Thriller mit Verfolgungsjagd, Geiselnahme und einer Schützin, die direkt nach dem Schuss in die Knie sinkt, als hätte sie zu viel Hollywood-Kino konsumiert. Das wirkt alles recht überdreht spektakulär – zudem gerät die Figurenzeichnung immer eindimensionaler. Diese zweite Hälfte, die für Rasoulofs Verhältnisse relativ unsubtil ist, aber ihm vielleicht gerade deshalb die Nominierung zur (deutschen) Einreichung für den Auslands-Oscar eingebracht hat, ist auf Plot-Ebene kaum ernst zu nehmen. Man kann sie höchstens als Parabel verstehen, die zeigt, was die Alten den Jungen im Iran antun.
Treffender ist da jene Allegorie, die Rasoulof dem Film in Textform voranstellt: Er berichtet darin von einer Feigenbaum-Art mit dem vielsagenden Namen Ficus religiosa: Es ist ein Baum, dessen Samen über Vogelkot auf andere Bäume gelangen, dort Wurzeln aus der Höhe bis zum Boden schlagen, um sich dann langsam mit den Ästen um den Wirt zu wickeln und diesen schließlich zu erwürgen. Es ist also ein Baum, der anderen erst die Schönheit nimmt – und dann die Zukunft.
Neue Kritiken

Nuestra Tierra

While The Green Grass Grows (Parts 1+6)

Copper

Kleine Dinge wie diese
Trailer zu „Die Saat des heiligen Feigenbaums“

Trailer ansehen (1)
Bilder




zur Galerie (5 Bilder)
Neue Trailer
Kommentare
Es gibt bisher noch keine Kommentare.