The Secret Agent – Kritik
Kleber Mendonça Filhos The Secret Agent ist zugleich Politthriller und quasi-autobiographische Hommage an die brasilianische Stadt Recife in den Seventies. Mit einem warmherzig-erschöpften Wagner Moura, einem schön genervten Udo Kier und einer zweigesichtigen Katze.

Brasilien, 1977. Korruption und Selbstjustiz prägen die Übergangszeit von der Militärdiktatur zu etwas weniger Autoritärem. Und auf der anderen Seite: Karneval! Die äußerst turbulente nordöstliche Form davon, in der atlantischen Hafenstadt Recife. In jeder Karnevalssaison kommen dort Leute im Getümmel zu Tode, wie in Orfeu Negro, an den ich beim Gucken von The Secret Agent manchmal denken musste.
Marcelo (Wagner Moura), Anfang vierzig, kommt zurück in seine abtakelnde Stadt. Als er von ihr wegging, trug er noch sein Haar wie Che Guevara und war ein verdienter Werkstoffwissenschaftler an der Uni, der sogar ein Patent für Lithiumbatterien hielt. Doch seine politischen Gegner stellten seine Forschungen als böswilligen Missbrauch öffentlicher Gelder hin, strichen sein Budget und schädigten planmäßig seinen Ruf. Nun sucht er einen Neuanfang. Leicht wird das nicht. Er sieht die Verkommenheit und soziale Ungerechtigkeit um ihn herum. Aber auch die unerklärliche, wie vom Himmel gefallene Güte mancher seiner Mitmenschen. Bei seinem Vater, einem Filmvorführer, sieht er seinen geliebten kleinen Sohn wieder. Er findet einen Job, wird aber wegen „subversiver Aktivitäten“ verfolgt und schließlich mit dem Tod bedroht.
„Denkst du, ich hole ihn aus einer Karnevalssitzung, wenn es nicht wirklich wichtig ist!?“
In The Secret Agent steckt vieles. Er ist ein klassischer, ernsthafter Politthriller, angesiedelt in einem politisch und sozial unruhigen Umfeld. Aber er hat auch diesen lateinamerikanisch breit angelegten, durch viele Generationen und Klassen mäandernden, episch-literarischen Erzählstil. Regisseur Kleber Mendonça Filho malt ein liebevoll kundiges, farbiges und manchmal lustiges Porträt verschiedener Milieus und Subkulturen, sinistrer Typen und unkonventioneller Mentalitäten. Dieser Mix ist nichts für Ungeduldige. Manchmal steht der Film fast still. Er überlegt, setzt woanders an… ein Puzzle. Erst spät kommt Action auf, und überraschend gute.
Das haarige Bein

Medien sind ein großes Ding im Recife jener Tage. Die Bilder werden von Musik herangespült und umflossen; das Radio spielt den ganzen Tag lang zwischen den Nachrichten Tropicalismo-Bossanova, Samba, Marschmusik, Chicagos „If You Leave Me Now“, Donna Summers „Love to Love You Baby“. Es geht eine Story um, die damals wirklich von einem Radioautor erfunden wurde. Die Kinder und zaubergläubige Erwachsene glauben sie: Ein aggressives, abgeschnittenes haariges Bein hüpft nachts in der Stadt herum und ermordet mit seinen kräftigen Tritten z. B. homosexuelle Paare in den Parks. Die vielgelesenen Zeitungen verbreiten die urbane Legende. Furcht und Fantasie verquicken sich gruselig mit der Nachricht, im ozeanographischen Institut sei beim Sezieren eines Hais ein Menschenbein gefunden worden. Dazu wiederum passt es, dass die vielen Kinos in Recife gerade überall mit Plakaten für Der weiße Hai werben. Regisseur Mendonça stammt aus Recife und war 1977 neun Jahre alt. Er und seine Mitarbeiter haben viel recherchiert, in ihrer familiären Vergangenheit, in Archiven und Bibliotheken.
Wagner Moura, Udo Kier, eine Katze mit zwei Gesichtern

Wagner Moura mochte ich schon, viel pummeliger, als Escobar in der Narcos-Serie. Er scheint mir immer zu summen und zu brummen, irgendwie ungesund salopp, als wäre er von einem Fieber schlapp und angeschlagen. Er hat dieses müde, kleine, amüsiert-verwunderte, zerknautschte, gequälte und verzeihende Lächeln. Weichheit und Wärme sickern aus ihm. Liegt das an Brasilien? Am Karneval? Viele Leute in The Secret Agent schleppen sich so kraftlos und wie nebenbei herum, als wären sie verkatert.
Auch bei Hans (Udo Kier) schaut der Film kurz vorbei. Ein Militärchef rühmt ihn für seine kriegerische Tapferkeit. Er hält ihn stur für einen Ex-Nazisoldaten und will nicht raffen, dass er ein deutscher Jude ist und seine Narben nicht vom Kampf herrühren. Kiers scharf konturierte, defensiv freche, flamboyante Präsenz und seine deutliche, blecherne Stimme springen aus seiner Figur hervor wie Schmerzensschreie.
Tania Maria als Donna Sebastiana verkörpert die unverhoffte Güte, von der ich anfangs sprach. Die alte Frau kümmert sich in ihrer Bude um Flüchtlinge – aus der Nachbarschaft, aus aller Welt, aus allen Gründen. Sie hilft Angolanern und versteckt einen wegen seiner „Unmännlichkeit“ verachteten jungen Nachbarn vor seiner Familie. Für eine Katze, die – wie dieser Film – mit zwei Gesichtern geboren wurde, hat Sebastiana ihre Haustür mit einem selbstgemachten offenen Katzeneingang ruiniert, durch die nun alle Tiere der Straße ein- und ausgehen.
„Von mir gefahren, von Gott gelenkt“

Es gibt noch viel mehr Interessantes, das man hier nicht in der Kürze würdigen kann; der Film wurde für seine Schauwerte und seine Fülle mehrfach ausgezeichnet, auch in Cannes, mit goldenen Palmen für Hauptdarsteller und Regie. Er hat den aufmerksamen Blick des lebhaften Kindes von 1977, dessen Gefühle und Fantasien von Straßen, Begegnungen und Schlagzeilen inspiriert werden. Überall sieht man VW-Käfer, damals in Südamerika produziert, gerne in Gelb; „von mir gefahren, von Gott gelenkt“ steht auf einem. Der Panavision-Look feiert solche Dinge. Die vielen vom Leben gezeichneten Straßenjungs wirken wie aus einem Pasolini-Film. Es gibt versteckte, marode Orte, schräge Geschehnisse – leise satirisch und mit Schlagseite gezeichnet, ein bisschen wie im tschechischen Märchenfilm der 70er. Ein aufgedrehter Betrunkener hat sich als Heuhaufen verkleidet und springt kurz ins Bild. Eine Sekretärin in dem Büro, wo Marcelo jobbt, tippt aufreizend langsam, weil sie „auf Provision arbeitet“, wie sie rätselhaft erklärt. Sie gibt ihm einen der von ihr getippten Zettel: „Sie gefallen mir. Sind Sie interessiert an Frauen?“ Alle Orte – Tankstellen, Ämter, Institute, Archive, Kinos, Spitäler – bergen reiche Vorgeschichten und Geheimnisse, genau wie ihre Bewohner. Dort, wo das Kino von Marcelos Vater ist, wird einmal sein Enkel in einem Blutspendezentrum arbeiten. Und auch der verlebte Killer war mal jemand anderes. Ein schöner Film, der lange nachklingt und noch weiterwächst.
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