Passagiere der Nacht – Kritik

VoD: Eine alleinerziehende Radio-Telefonistin bringt zwei Jugendliche durch die Achtziger und streckt die Hand zu einer Fremden aus. Mikhaël Hers’ Passagiere der Nacht ist ein Film, wie man ihn nicht mehr so häufig sieht.

Im Rückblick, davon zeugen nicht zuletzt politische Bestandsaufnahmen wie Didier Eribons berühmt gewordene Rückkehr nach Reims, steht das Jahr 1981 in der Geschichte Frankreichs für enttäuschte Hoffnungen. So sieht das auch The Passengers of the Night in seinem Prolog, in dem sich nach der Wahl Mitterrands zum Präsidenten ein Freudentaumel der Straßen von Paris bemächtigt. Doch die Bilder sind gedämpft, die elegische Musik ruft die Achtziger auf, ist aber selbst nicht von dort, weiß schon um die Enttäuschung, um die Distanz zu dem Moment, in dem sich gänzlich Fremde durch ein Autofenster die Hand reichen. So sehr der Film in diesem Moment die Zeit unter die Lupe nehmen kann, anhalten kann er sie nicht.

Rettung durch die Nacht

Mikhaël Hers macht’s dieses Mal episch, also ein Zeitsprung nach 1984: Der Aufbruch ist abgebrochen, die Hoffnung verflogen, Élisabeth (Charlotte Gainsbourg) verzweifelt. Von einer gescheiterten Ehe ist nur die Wohnung in einem Hochhaus im 15. Arrondissement übrig, die sie gemeinsam mit ihren schon ziemlich heranwachsenden Kindern Matthias (Quito Rayon-Richter) und Judith (Megan Northam) bewohnt. Ihr nächtlicher, schlafloser Blick über Paris ist so erhaben wie die Realität erniedrigend, ihr erster Tag in einem neuen Job, nachdem sie an seinem Ende eine entscheidende Datei wieder löscht, zugleich der letzte. Alleinerziehend, arbeitslos, aber das große Drama bleibt auch in diesen Momenten irgendwo tief in Élisabeth verborgen. Denn Charlotte Gainsbourg schenkt ihrer Figur die ihr eigene fragile Härte, lässt sie in ihrer Verletzlichkeit fast unverwundbar wirken. Und auch Anton Sankos Score trägt eher zur nächtlichen Beruhigung als zur Dramatisierung bei.

Die Nacht wird Élisabeth schließlich retten, die Nacht und ihre Passagiere, die der Call-in-Radiosendung von Vanda Dorval (Emmanuelle Béart) lauschen. Hierhin verschlägt es Élisabeth beruflich, als Telefonistin nimmt sie die Anrufe der Zuhörenden entgegen, leitet die interessanten weiter, filtert die Freaks raus. Die Nacht treibt auch die 18-jährige Talulah (Noée Abita) in die Sendung und damit in den Film. Talulah, die von zu Hause abgehauen und ohne Obdach ist, zieht in ein kleines Dachbodenzimmer bei Élisabeth ein, freundet sich mit den Teenagern an.

Kein Zutritt für Arschlöcher

The Passengers of the Night ist ein Film, wie man ihn nicht mehr häufig sieht. Die Dinge geschehen ohne viel Tamtam, werden aber stets präzise und mit großem Kinosinn in ein Bild gesetzt, das alles Böse abstößt. Der Anrufer, den Élisabeth versehentlich durchstellt und der die Moderatorin aufs Übelste beschimpft, bleibt ein dünnes Stimmchen in der Leitung; dem ignoranten Ex-Mann wird ein eigener Auftritt sogar gänzlich verwehrt. Auch die klaren Konflikte zwischen den großartig gutherzigen Figuren werden, einmal angedeutet, direkt wieder aus dem Film verbannt. Als ein Arbeitskollege Elisabeths Hoffnung auf eine neue Romanze enttäuscht, sich entschuldigt, er sei nach seiner letzten Trennung noch nicht so weit, ist das in Ordnung, man wird später trotzdem zusammen tanzen. Als Matthias und Talulah beginnen, sich ins wilde Nachtleben zu stürzen und in der Seine landen, ist Élisabeth gar nicht amüsiert, aber der Film so sehr, dass er die Episode lieber für ein erstes Mal nutzt als für einen Streit zwischen Mutter und Sohn.

Konflikte und Arschlöcher, es gibt sie, ebenso wie die soziale Kälte, die ökonomischen Verhältnisse, aber im Off, das Bild ist nicht der richtige Ort für sie. Hers verweigert ihnen den Zutritt zu seinem Kino, so wie der Kinobetreiber im Film den drei Jugendlichen, weil die Vorführung bereits seit zehn Minuten läuft. Der Unterschied: Im Gegensatz zu den Konflikten und den Arschlöchern findet Talulah trotzdem einen Weg hinein, die drei Kids landen in Rohmers Vollmondnächten, der sie erst verstört und dann doch nicht loslässt. Im letzten Teil, als vier weitere Jahre in einer Ellipse verschwunden sind, arbeitet Talulah selbst in diesem Kino, und natürlich entpuppt sich auch der einst strenge Besitzer als großzügiger Chef. Und der creep, der Élisabeth in ihrem Tagesjob in einer Bibliothek stalkt, als diesmal eingehaltenes Versprechen einer neuen Romanze.

Heilung der Welt

Wäre dieser Film auch formal näher an der Realität orientiert, würde er seine Zeit also weniger beschwören als tatsächlich riechen, schmecken, beobachten wollen, wäre nicht nur diese Güte befremdlich, man müsste wohl auch anders über seine Bilder sprechen, etwa über den Rückgriff aufs gefallene Mädchen (Hers hat Noée Abita als Wiedergängerin der jung verstorbenen Pascale Ogier gecastet), das nach Jahren wieder bei der Familie vor der Tür steht, mit Löchern in den Armbeugen, aber so schön wie eh und je. Doch Hers geht es eben nicht um Repräsentationen, sondern um all das, was das Kino der Realität voraus hat, um all das, was es ihr schenken kann. Sein Film ist nicht einfach eine heile Welt, aber arbeitet an der Heilung der Welt.

Zugleich erinnert The Passengers of the Night, und nur in diesem cinephilen Sinne ist er nostalgisch, an die mitunter auch nächtlichen Filme, die Maurice Pialat und andere in eben diesen 1980er Jahren in Frankreich gedreht haben: Filme, in denen die offenen Wunden des Lebens nicht von der Kamera begafft, sondern behutsam von der Montage genäht werden, auf dass die Zeit sie heile; Filme, die nicht so tun, als könnten sie als etwas anderes existieren denn als Zusammenspiel von Bild, Ton und Schnitt, und die zugleich von nichts anderem leben als dem Leben selbst.

Ins Kino entführt

Es ist dies ein Kino, das nicht im vermeintlich unverstellten Zugang auf den Moment seine Intensitäten sucht, sondern im Wunsch fortzufahren. Ein Kino, das sich alle Freiheiten nimmt, etwa die Formate wechselt oder alte Parisaufnahmen einflicht, aber nicht mit dem neuwelligen Gestus der ästhetischen Erneuerung, sondern in der stetigen Suche nach dem passenden Ausdruck, nach der passenden Geste, und sei es die nächste Motorradfahrt mit Haaren im Wind.

In einer verdient deutlichen Szene tanzt die Familie zu Joe Dassins Et si tu n’existait pas, erst Mutter und Sohn, dann die Tochter dazu, und dann wird die Hand nach Talulah ausgestreckt, um wenigstens die Familie zu erweitern, wenn auf den Sozialismus kein Verlass ist. Eine 1981er-Geste, aus dem Archiv der Hoffnungen geholt, ins Kino entführt, dort aufbewahrt, auf dass sie von hier aus zurück in die Welt findet.

Der Film steht bis 11.04.2024 in der Arte-Mediathek.

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Kommentare


Micha

Filmkritik ist nicht vergebens: Eine schöne einfühlsame Kritik, die mir den Film, der mir beim Sichten manchmal zu nah am Wasser gebaut war, jetzt aber in einem anderem Licht erscheinen lässt.






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