Warten auf Schwalben – Kritik
Algerien ist ein gefährliches Land, ein unfreies Land, ein kriegstraumatisiertes Land, zeigt Warten auf Schwalben in drei Geschichten. Dabei erinnert der Regisseur Karim Moussaoui seine Landsleute daran, dass sie die Musik bestimmen.

Als Mourad (Mohamed Djouhri) und Lila (Sonia Mekkiou) – geschieden, aber offensichtlich befreundet – reden, überlagert sich die Sorge um den gemeinsamen Sohn Nacim (Zineddine Hamdouche) mit der Sorge um das Land. Ihre Klage lautet in beiden Fällen gleich: Es geht nicht aufwärts. Tatsächlich dröselt der Film in der Gestalt des wenig ambitionierten Nacim, der aus Bequemlichkeit sein Medizinstudium schmeißen möchte, die diffuse Gesellschaftsdiagnose auf. Als Mourad seinen Sohn nebenbei fragt, was eigentlich der Freund macht, mit dem er sich herumtreibt, scheint Selbsterkenntnis das schweigende Gesicht zu durchzucken; Nacim muss die Frage schließlich mit „nichts“ beantworten. Die Miene ist gleichermaßen bedrückt, geniert und antrieblos. So, wie der Vater den Sohn dazu bringt, die eigene Lage zur Sprache zu bringen, hat Moussaouis Langfilmdebüt Warten auf Schwalben etwas von einer kollektiven Selbsterkundung: Wie stehen wir eigentlich da?
Der Erzählfunke springt über

Dieser Frage geht Moussaoui nach, indem er drei Geschichten erzählt, die er alle nie zum Abschluss führt, sondern jeweils vor ihrer Auflösung ineinander übergehen lässt. Wie zufällig reichen sich die Protagonisten den Erzählfaden, tauchen am Rande einer Geschichte auf und ziehen dann die Aufmerksamkeit auf sich, womit die nächste beginnt. Die Nicht-Vollendung wird zum Prinzip erhoben. Auch hier drängt sich das Gefühl einer Parallele zur Lage der Nation auf. „Sollen sich Dinge nur ändern oder entwickeln?“, fragt Mourad, als Lila darüber klagt, dass sich in Algerien nichts verändert. Warten auf Schwalben fängt Veränderung ein, vor allem Bewegung – Autofahren ist eines der Leitmotive des Films –, aber ehe die für die Protagonisten entscheidende Wende eintritt, ist die Kamera schon woanders. Das stärkt den dokumentarischen Charakter des Films. Die Fiktion wird nicht in zuschauerfreundliche Dramaturgie gegossen, entfaltet sich nicht entlang eines Spannungsbogens, sondern gibt ihr eigenes Tempo vor, wie losgelöst vom Blick, der sich auf sie gelegt hat. Anfang und Ende scheinen deshalb nichts anderes zu sein als beliebige Schnitte in einem unentwegten Strom von Handlung; Warten auf Schwalben könnte woanders beginnen und woanders enden. In der letzten Szene springt die Erzählung wie ein Funke wieder auf eine Randfigur über, und liefe die nicht fast buchstäblich in den Abspann, gäbe es vermutlich eine vierte Geschichte.
Vom Vergangenen eingeholt und am Leben gehindert

„Wenn du die heutige Welt nicht verstehen kannst, halte dich an vergangene Zeiten“, sagt Mourad ganz am Anfang und liefert damit einen in diesem Film wohl kaum brauchbaren Rat. Denn die Protagonisten, denen Moussaoui folgt, haben sich irgendwie im heutigen Algerien eingerichtet, werden dann aber allesamt von Vergangenem eingeholt, das sie daran hindert, ihr Leben so zu führen wie zuvor. Mourad kommt nicht darüber hinweg, dass er weder eingegriffen noch einen Notruf abgesetzt hat, als er wegen einer Autopanne zufällig einem Mord beiwohnt. Ehe wir herausfinden, wie er das Ereignis bewältigen wird, verlässt ihn der Film, und wir sitzen mit seinem Gehilfen Djalil (Mehdi Ramdani) im Auto. Der fährt einen Mann und seine beiden Töchter in den Süden, wo eine der Töchter, Aïcha (Hania Amar), heiraten soll. Inwieweit die Ehe arrangiert ist, bleibt unklar. Es stellt sich heraus, dass Aïcha und Djalil früher etwas miteinander hatten und vielleicht noch ineinander verliebt sind. Ehe wir herausfinden, für wen sich Aïcha im formelhaften „Ringen zwischen Tradition und Modernität“ entscheidet, fährt ihr Dahman (Hassan Kachach) entgegen und nimmt die Aufmerksamkeit der Kamera für sich ein. Eine Frau wirft dem ambitionierten Arzt vor, im algerischen Bürgerkrieg ihrer Vergewaltigung wortlos beigewohnt zu haben.

Auch wenn der Film den Eindruck erweckt, dass er zufällig von einer Geschichte auf die andere springt und jeder Protagonist in seine Fänge geraten kann, ist die Effizienz bezeichnend, mit der die drei Geschichten ein Bild vom heutigen Algerien aufspannen. Algerien ist ein gefährliches Land, sagt Mourads Geschichte. Algerien ist ein unfreies Land, sagt Aïchas Geschichte. Algerien ist ein kriegstraumatisiertes Land, sagt Dahmans Geschichte. Der Regisseur scheint durchweg an seine Landsleute zu appellieren: mehr Zivilcourage (Mourad), mehr Aufbruch (Aïcha), mehr Vergangenheitsbewältigung (Dahman). Andernfalls opfert ihr die algerische Jugend: Eindringlich mahnen sowohl Nacim, der sich bei einem Verkehrsunfall den Arm bricht, als auch der Sohn der vergewaltigten Frau, der sich nur in grellen Schreien äußern kann und in dem die Sprachlosigkeit über den Bürgerkrieg menschliche Züge annimmt.
Das Auf und Ab vom Kopftuch

Dabei setzt Moussaoui Vertrauen in seine Protagonisten und besonders in ihre Fähigkeit, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Die Rolle, die Musik und Tanz im Film einnehmen, zeugt von der menschlichen Gestaltungskraft, von der Fähigkeit, sich Dinge anzueignen und umzudeuten. Die Tanzszene bei Dahmans Hochzeit, die trotz der sichtlichen Freude auch etwas über die Last der Tradition und der Rollenzuschreibungen sagt, kontrastiert wunderbar mit der Szene in der einsamen Hotelbar, in der Aïcha nicht nur die Musik bestimmt, sondern auch die gesamte Tanzfläche einnimmt; ein symbolischer Höhepunkt ist erreicht, als sie sich das Kopftuch um die Taille bindet, um die Bewegung ihrer Hüften zu betonen. Ebenso symbolisch ist die Szene, in der eine seltsam bunt zusammengewürfelte Band in die karge Berglandschaft platzt und musiziert, dem unaufhaltsamen Eindruck zum Trotz, sie passten so gar nicht in diesen Ort. Ihr bestimmt die Musik, überall und jederzeit, scheint Moussaoui seine Landsleute zu erinnern.
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