Le Paradis – Kritik
Die subversive Kraft der Zärtlichkeit: In seinem Debütfilm schenkt der Belgier Zeno Graton zwei Häftlingen dort Freiheit, wo sie ihnen genommen wurde. Le paradis lenkt die unbändige Kraft dieser Jungen in etwas Stolzes und Schönes um.

Fast eine ganze Stunde ist Le paradis wirklich das Paradies, eine unendlich zärtliche Liebe, die nicht bis zur Abnutzung den Lebensumständen abgerungen werden muss, sondern ganz bei sich sein kann: bei einem verstohlenen Blick auf den schlafenden Körper; bei einem ersten Blickkontakt, der mit Bestimmtheit initiiert und verwundert-verzaubert gehalten wird; bei einer geteilten Zigarette, die zwischen den Mündern hin und her wechselt; bei den ersten Berührungen, dem ersten, leidenschaftlichen, aber kurzen Kuss, der wie vor Dankbarkeit und Überwältigung sofort in eine fast schmerzhaft innige Umarmung übergeht. Ja, vielleicht ist das, was Graton hier zeigt, eine Utopie: zwei junge Männer, die in ihrem queeren Begehren gefestigt sind, deren Anziehung zueinander weder verinnerlichte Homophobie noch Homophobie von außen überwinden muss, ehe sie sich Bahn brechen kann, und dann noch – eher vor allem – eine Anziehung, für die es einen Raum gibt, obwohl diejenigen, die sie füreinander verspüren, hinter Gittern sind. Doch es ist keine Utopie, die sich gegen den Vorwurf der Realitätsferne wehren muss; es ist eine Utopie, die zu den Bildern steht, die sie erschafft, und die darin etwas Mächtiges sieht, das auf unsere Wirklichkeit einwirken kann.
Draußen, da wartet keiner auf dich

Joe (Khalil Gharbia) und William (Julien De Saint Jean) leben in einer Jugendstrafanstalt. Ihr Alltag ist fremdbestimmt, ihr Bewegungsradius begrenzt, ihr Leben engmaschig überwacht. Und trotzdem ist ihr Begehren keins, das sich immer wieder schmerzhaft an den Grenzen des Haftlebens stößt, sondern eines, das darin auf eigene Weise aufblüht, seinen eigenen Ausdruck, seinen eigenen Raum findet: etwa die Wand, die Joes und Williams Zellen voneinander trennt und über die sie sinnlich mit den Fingern streichen. Ihr Begehren ist im Hier und Jetzt verankert, es vermengt sich nicht mit der Sehnsucht nach Freiheit, sondern löst sie ab. Auf einmal ist die Freiheit drinnen, und das Draußen ein leeres Versprechen. Draußen, da wartet keiner auf dich.

Darin, in der Freiheit, der Zärtlichkeit, die Graton seinen beiden Protagonisten schenkt, ist der Film am stärksten. Die Bilder von Kameramann Olivier Boonjing transportieren diese Unbeschwertheit, verleihen dem Film das Kraftvolle, Fließende, Unaufhaltsame dieses jugendlichen Begehrens. Graton sprenkelt auch etwas Magisches, nahezu Mystisches in den Film. In einer der schönsten Szenen kehren die Jungen mit Kriegsbemalung im Gesicht vom Joggen zurück und müssen unter strömendem Regen vor der Anstalt darauf warten, dass sich das Tor öffnet. Die Ungeduld wächst, kippt – wie so oft in dieser Gruppe, die sich immer am Rand der Explosion bewegt – in Aggressivität, doch da streift sich der erste Junge das T-Shirt vom Leib, streckt die Arme zum Himmel und empfängt den Regen wie ein göttliches Geschenk. Bald machen es ihm die anderen nach, und Le paradis lenkt die unbändige Kraft dieser Jungen, die so oft fehlgeleitet wird, Zerstörung anrichtet, in etwas unglaublich Würdevolles, Stolzes, Schönes um.
Statement zum Strafvollzug

Graton geht es nicht nur um andere Bilder der Zärtlichkeit und der Männlichkeit, sondern auch um ein Statement zum Strafvollzug und zu den gesellschaftlichen Umständen, die Gefängnisse mit jungen Männern füllen. In einer Unterrichtsszene rappt Joe von Rassismus und Perspektivlosigkeit, ein anderes Mal lässt Fahd (Amine Hamidou) seiner Verzweiflung freien Lauf, als er die Absage eines Internats erhält: Was soll er einmal von einem Leben in Freiheit haben, wenn ihn alle da draußen abstoßen? Das ist sicherlich richtig und wichtig, dafür findet Graton aber deutlich weniger starke, originelle Bilder. Am Ende ist es vor allem die Zärtlichkeit, die in Erinnerung bleibt, und ihre subversive Kraft.
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