Die Linie – Kritik
In Die Linie trennt Ursula Meier eine Familie und führt sie wieder zusammen. Nur die Mutter wird zum Problemfall, auch für den Film.

Auftritt einer Familie bei gleichzeitiger Demontage, eigens durchgeführt von ihren Mitgliedern. Porzellan, Notenblätter, Schallplatten, Möbelstücke. Alles kracht zu Beginn von Die Linie (La ligne) in Zeitlupe gegen eine Wohnzimmerwand. Denn was noch da ist an gemeinsamer Erzählung, soll endlich in Einzelteile zerlegt und zerstört werden. Noch bildet das übrige Interieur eine widerständige Struktur gegen die Gewalt, die sich aus der Familie gegen die Familie richtet; noch kann der Flügelkorpus, der Lieblingseinrichtungsgegenstand von Mutter und Konzertpianistin Christina (Valeria Bruni Tedeschi), sich Margaret (Stéphanie Blanchoud) in den Weg stellen, damit sie Christina nicht zu fassen bekommt. Aber schließlich passiert es dann doch, und das Tasteninstrument muss tatenlos mitansehen, wie die Tochter die Mutter verdrischt, die mit dem Kopf auf die schwarz-weißen Tasten kracht und von nun an auf einem Ohr taub ist.
Die Einheit, die sich Familie nennt

Auf einen Schlag, mit diesem Schlag, ist die Ordnung ausgesetzt, die bis dahin zu gelten schien, quasi eine Stunde Null, mit der Ursula Meier ihren neuen Film eröffnet. Nach und nach werden in Die Linie die verschiedenen Auslöser für den rohen, brutalen Exzess offengelegt, der sich nicht plötzlich ereignete, sondern jahrelang vorbereitet wurde. Schon vorher, das wird klar, war es nämlich gar nicht so harmonisch in den vier Wänden, in denen Christina mit ihren drei Töchtern wohnt. Innerhalb des weiblich besetzten Haushalts haben sich die Konflikte angestaut, die nun die gewohnten Bahnen verlassen, in denen sie verliefen, und auf eine Lösung pochen.
Eine prinzipielle Dysfunktionalität jener Einheit, die sich Familie nennt, interessiert Meier weniger, als es vielleicht zunächst den Anschein hat. Kein Boxkampf nach K.-o.-System, den dieser Film veranstaltet, eher eine Übung im Tauziehen, hin und her. Es werden definitiv Kräfte gemessen, doch geht es nicht darum, die Gegnerin über eine Linie zu ziehen, vielmehr gemeinsam dafür zu sorgen, dass beide trotz Verbindung nicht umfallen. Familie zeigt sich bei Meier als Konstrukt, das von allen Beteiligten immer wieder neu bestätigt werden muss. Die Linie fasziniert dabei das Ambivalente, die Zuneigung, die sich in den Sticheleien von Geschwistern zeigt – und wo genau das „zu weit“ liegt, wenn diese zu weit gehen.
Ein Familienkreis

Meier ist an Klärung interessiert, an stillschweigenden Vereinbarungen von Waffenstillstand. Eine ziemlich versöhnliche Agenda folglich, die dieser Wettbewerbsbeitrag nach dem Anfang fährt. Damit allerdings Raufboldin Margaret mit Christina und den anderen wieder zusammenfinden kann, muss Die Linie die bestehenden Entfernungen zwischen den Figuren künstlich vergrößern und markieren. Vom Gericht erhält die Schlägerin ein Kontaktverbot, weshalb sie sich nur noch auf 100 Meter dem Wohnort der Familie nähern darf. Marion (Elli Spagnolo), die jüngste der drei Schwestern, zieht mit blauer Farbe einen Kreis ums Haus, über Asphalt, Kies und Wiese hinweg. An der kindlich-krummen Linie, eine Materialisierung des Filmtitels, richtet sich Margaret ein, wartend, hoffend, will sie doch aus der Verbannung zurück in den Familienkreis.
Marion und Margaret nähern sich wieder an, als die große Schwester die kleine Schwester bei ihren täglichen Gesangsübungen musikalisch unterstützt. Christliche Evergreens mit E-Gitarrenbegleitung schallen von den Bergen zurück, die die Filmbilder rahmen und die Figuren überdauern. Diese Berge waren schon vorher da, und sie werden auch bleiben, wenn die Menschen mit ihrem ganzen Quatsch (Liebe, Streit, Krieg, Gewalt, Glaube, Hass) nicht mehr sind. Die Linie spielt ausschließlich im Haus und seiner direkten Umgebung, verzichtet auf weitere Schauplätze. In der Familie ist schon genug los, sie selbst liegt wie ein eigener, abgesteckter Raum vor. Diese von Kamerafrau Agnès Godard aufgespannte Topographie familiärer Konstellationen braucht nichts weiter.
My home is my castle
„Man weiß nicht, ob 100 Meter weit sind oder nicht“, sagt Christina später, und tatsächlich ist die Angabe im Film eine variable Größe, mal weit weg, mal erstaunlich nah dran am Haus, das Margaret wie eine Hündin umkreist und bewacht. Das Draußen und das Drinnen sind derweil Motive, die schon die vorherigen Arbeiten von Meier prägten, etwa in Home (2008) oder Winterdieb (2012). Vor allem an ersteren erinnert Die Linie, wenn Meier einen Seitenwechsel vollzieht und Blicke auf ein Haus wirft, weniger aus ihm heraus. Valeria Bruni Tedeschi als Christina wirkt wie eine Überdrehung der in Home von Isabelle Huppert gespielten Mutterfigur, der die Sesshaftigkeit zu Kopf gestiegen scheint. „My home is my castle“, so das Motto bei jedem Schritt, den sie im Haus macht; eine Frau, die sich in der Rolle als Matriarchin mit jüngerem Loverboy sichtlich eingerichtet hat.

Für Die Linie wird diese Mutter irgendwann zum Problem, eben weil sie so sehr in ihrem eigenen Film unterwegs ist. Was anfangs wirklich komisch ist, entwickelt sich zum nervigen Running Gag, bei dem nur noch müde gelächelt werden kann, wie wenn der Onkel auf dem Familientreffen den einen Witz erzählt, den er eben immer erzählt, wenn man sich sieht. Dabei wohnt in der Mutter, die ja eigentlich keine werden wollte und deren Karriere durch Margarets Geburt gestoppt wurde, ein viel größeres Potenzial für die Erzählung im Hinblick darauf, was es bedeutet, Mutterschaft zu bereuen und dennoch einen Umgang damit finden zu müssen. In Die Linie aber wird die Mutter zur Karikatur, die das Summen auf dem tauben Ohr als sehr hohes B ausmacht (sie ist halt eine waschechte Musikerin) und nicht nachfragt, weil sie etwas nicht hört, sondern weil sie es nicht hören will.
Um die Idee dieser Mutter stellt Meier einen Film wie ein Zelt. Am stabilsten wird der aber, wenn Christine ihren Töchtern das Feld überlässt. Denn auch wenn Margaret, Marion und die schwangere Louise (India Hair) nicht immer derselben Meinung sind, geht es in der Begegnung ihrer Lebenswelten doch auch empathisch und solidarisch zu. Konfrontation, Musik, die Farbe vom Blut der Schwester, das am Finger kleben bleibt: Die Linie ist ein Blick auf eine Schulter im Glitzerkleid, unter dem die blauen Flecken schon wieder verschwunden sind.
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