The Kindness of Strangers – Kritik

Die erstickende Wärme der Menschlichkeit. Lone Scherfigs Berlinale-Eröffnungsfilm The Kindness of Strangers will ein melodramatisches Loblied auf das Gute im Menschen sein, ist aber fürs Preisen wie fürs Weinen zu leidenschaftslos.

In seinem ursprünglichen Kontext entfaltet der Ausdruck „the kindness of strangers“ eine zutiefst tragische, gar zynische Wirkung: Blanche DuBois hält am Ende von Tennessee Williams’ Endstation Sehnsucht fest, dass sie schon ihr ganzes Leben lang auf die Güte fremder Menschen angewiesen war – just, als sie im Begriff ist, von einem Arzt zur Zwangseinweisung in eine Nervenheilanstalt abgekarrt zu werden. Von der Bitterkeit, die in dieser Szene steckt, ist in Lone Scherfigs Berlinale-Eröffnungsfilm nichts zu spüren, hier ist die Güte fremder Menschen immer aufrichtig und überschäumend, ja selbstverständlich. Der Film wirkt wie ein bewusster Gegenentwurf zu dem in seinem Titel angerufenen Theaterstück: Er will einen Glauben bekunden, den Glauben an das Gute im Menschen, und reiht zu diesem Zweck eine Offenbarung der Menschlichkeit an die andere.

Eine romanhafte Breite, die schnell zur Unschärfe wird

Dabei entwirft The Kindness of Strangers ein romanhaftes Panorama an Figuren, die alle ihre Bahnen durch das winterliche New York ziehen und einander mit schicksalhafter Regelmäßigkeit über den Weg laufen. Clara (Zoe Kazan) ist mit ihren zwei Söhnen vor ihrem brutalen Mann in die Stadt geflohen und irrt nun von einer temporären Unterkunft zur nächsten. Alice (Andrea Riseborough) verschwendet sich aufopferungsvoll in ihrer Arbeit als Krankenschwester und in der Leitung einer sozialen Einrichtung für Menschen auf der Suche nach Vergebung. Und dann gibt es noch einen Anwalt, einen Koch und einen Kellner, die alle mit ihren Dramen in das Gewebe des Films eingeflickt werden.

Doch der beharrt allzu sehr auf dieser Breite, sucht in ihr seine ganze Wirkung – und verliert sie eben dadurch. Denn ob eine plötzliche Verbundenheit verschiedener Figuren und einer unerwarteten Überschneidung ihrer Schicksale eindrucksvoll wirken, hängt ganz wesentlich davon ab, ob man diese Figuren zunächst in ihrer Eigenständigkeit erlebt. Man muss das Erleben und die Handlungsmöglichkeiten des Individuums erst eine Weile in Nahsicht begleiten, um die Momente menschlicher Vertrautheit und die Eröffnung neuer Perspektiven auf die Welt als eine Grenzüberschreitung erleben zu können. Stattdessen huscht The Kindness of Strangers von Figur zu Figur, von Schicksal zu Schicksal, als gäbe es nur eine einzelne Menschheitsseele, in die man mal an dieser, mal an jener Stelle eintauchen könnte. Kaum blickt etwa Clara einsam aus dem Fenster ihres Autos, schwenkt die Kamera schon hoch zu Marc, dem Koch (Tahar Rahim), der seelenvoll in einem oberen Stockwerk aus dem Fenster schaut. Der Film weiß stets im Voraus um die tiefe emotionale Verwandtschaft seiner Figuren – und ist dennoch immer unheimlich gerührt, wenn er diese Verwandtschaft offenbar werden lässt.

„Erzähl du es ihr!“

In dieser Gehetztheit erhalten auch die einzelnen interessanten Szenen und Bilder keinerlei Raum zum Atmen. Als Clara mit ihren Söhnen in einem Hinterhof plötzlich die Klänge eines Orchesters durch die Mauern eines der umliegenden Gebäude hört, ertönen nur wenige Akkorde, bevor die Figuren bereits mit gerade so unterdrückten Tränen vergehen vor dieser unerwarteten, aber im Film selbst nie wirklich stattfindenden Schönheit. Statt den unmittelbaren Sinneseindrücken zu vertrauen, reiht The Kindness of Strangers vielmehr immer wieder monologartige Berichte aneinander – als ob man sich einem Menschen irgendwie näher fühlte, wenn man umfassend über dessen Biografie informiert ist.

Nur in der Darstellung des Leids, das Clara in ihrem Ehedasein erleben muss, entwickelt der Film eine unmittelbare melodramatische Wirkung – eben weil dieses Leid dargestellt und nicht nur von ihm berichtet wird. Dabei ist die Darstellung keine direkte Abbildung, der Film hält keine Rückblenden auf die verübten psychischen und körperlichen Übergriffe bereit, sondern dieses Leid tritt nur in Form der von ihm hinterlassenen Wunden und Verwüstungen in Erscheinung. Claras oft unbedarftes Verhalten und ihre Sentimentalität angesichts ganz unscheinbarer Eindrücke machen die Entbehrungen und die Unfreiheit spürbar, denen sie über lange Zeit ausgesetzt gewesen sein muss. Die Emphase, mit der The Kindness of Strangers ansonsten fast pausenlos die menschliche Güte feiert, entfaltet allein in diesen kurzen Momenten eine ergreifende Wirkung – wenn der Film tatsächlich vor Augen führt, was passiert, wenn Menschen einander diese Güte vorenthalten.

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