The Irishman – Kritik
Das dreieinhalbstündige Mafiaepos The Irishman ist ein Abgesang auf eine Welt, die Martin Scorsese lebenslang obsessiv beschäftigt hat – aber wirkt in keinem Moment wie der Abschied eines Künstlers.

„Es ist niemand mehr übrig“, versichern die Polizisten dem greisen Gangster, als sie ihn kurz vorm Ende noch einmal verhören wollen. Alle längst tot, keiner mehr da, dem gegenüber er noch illoyal sein könnte. Die Aussicht auf diesen Schlusspunkt prägte die dreieinhalb Filmstunden zuvor: Wann immer Frank Sheeran (Robert De Niro) einem neuen partner in crime begegnete, verkündete ein Zwischentitel dessen Todesdatum. Die meisten starben im besten Alter, häufig durch Schüsse in den Kopf.
Ein melancholischer Scherz

An diesem vereinsamten Ende begegnen wir Frank gleich zu Beginn. Die Eingangssequenz von The Irishman ist ein Wiedergänger des berühmten Tracking Shots durch den Copacabana-Club aus GoodFellas (1990) – doch wo die Kamera damals einem vor virilem Stolz platzenden jungen Verbrecher hinterherhastete, der sich händeschüttelnd durchs geschäftige Zentrum seiner Macht wühlte, fährt sie nun durch die mit unglamouröser Geschäftigkeit erfüllten Flure eines Altersheims, vorbei an Tröpfen und Rollatoren auf die Rücklehne eines Rollstuhls zu, umkreist ihn und kommt vor dem zerfurchten Gesicht des darin abgestellten Gangsterurgesteins zum Stehen. Natürlich weiß diese Szene um ihre Wiederkennbarkeit – ein melancholischer Scherz, trocken serviert, den Ton des Films setzend.
Einem Ton, dank dem The Irishman niemals in der Tradition schwelgt, aus der er in jedem Moment schöpft. Wie GoodFellas und Casino beruht der Film auf der von einem True-Crime-Autor aufgezeichneten Biografie eines realen Verbrechers, und in der eher epischen als dramatischen, einen weiten Episoden-Bogen aufspannenden Erzählweise ähnelt der Film diesen beiden früheren Mafiaepen Scorseses. Doch wo GoodFellas seine Hauptfigur mit pulsierendem Vorwärtsdrang in ihren hysterischen Zusammenbruch trieb (und die Broker-Gangster-Tour-de-force The Wolf of Wall Street dieser Form noch einen heftigen Drall in die Überdrehtheit gab), da ist The Irishman, deutlich getragener, deutlich nüchterner, von Anbeginn die resignative Rückschau auf ein Leben, das sich der Hauptfigur sukzessive entleeren wird und an dessen Ende sie nichts erwartet als Einsamkeit.
Ein schlichter Jobwechsel

Vom tristen Lebensabend Anfang der 2000er Jahre führt Frank die Erinnerung zunächst ins Jahr 1975, als er, erste Rückblendenebene, mit seinem Mafia-Mentor und Förderer Russell Bufalino (Joe Pesci) einen Trip über mit Americana gesäumte Highways unternimmt, vermeintlich auf dem Weg zu einer Hochzeit. (Ihre Frauen auf dem Rücksitz sind kaum mehr als Farbtupfer, immerhin widerständig, sie lassen sich das Rauchen nicht verbieten.) Ein verwittertes Tankstellenschild initiiert dann den Sprung zurück in die 1950er, wo wir, zweite Rückblendenebene und Hauptteil des Films, den jungen Frank mit seinem fleischbeladenen LKW wiederbegegnen – und Robert De Niro mit seinem vielerorts bereits monierten computerverjüngten Gesicht. (Das ist, allzu faltenfrei und doch mit Augen und Mimik des 70-Jährigen, in der Tat erst mal etwas spukhaft. Aber auch ohne eine technische Unzulänglichkeit zur Absicht zu erklären: Zu den aus ferner Vergangenheit aufsteigenden Erinnerungsbildern eines sich selbst und seinen Zuhörern gegenüber nicht unbedingt aufrichtigen Erzählers passt es nicht so schlecht. Die Figur wird dann von Thelma Schoonmakers Montagefluss recht rasch in ihre Fünfziger getragen, wo der Effekt kaum noch auffällt.)
Der kleine Arbeiter erweist der Mafia mit abgezwackten Fleischlieferungen Gefälligkeiten und gerät so unter die Fittiche Bufalinos. Was Frank im Voice-over den Beginn vom Rest seines Lebens nennt, erscheint im Film als schlichter Jobwechsel. Peu à peu steigt Frank vom Geldeintreiber zum Auftragsmörder auf, lernt Rituale und Machthierarchien kennen und beherrschen. Schließlich bringt ihn Bufalino an die Seite des mächtigen LKW-Gewerkschaftsführers Jimmy Hoffa (Al Pacino), als Leibwächter, Anstandsdame und bald irgendwie auch Freund, mit dem er sogar pyjamabewehrt das Hotelzimmer teilt. Dass er zugleich weiter für Bufalino arbeitet und das Zerwürfnis zwischen Hoffa und der Mafia sich schnell anbahnt, wird seine Loyalität auf eine finale Probe stellen.
Glanzloser Mafiaalltag, allgegenwärtig

Scorseses Mafiafilme waren, verglichen mit der Pate-Trilogie oder Sergio Leones Once Upon a Time in America, schon immer eher mythenzerstörend. Dennoch zeigten auch GoodFellas und Casino die Mafia noch als eine faszinierende und beruhigend klar umgrenzte Parallelwelt. The Irishman macht diese Welt zum glanzlosen Alltag. Auch hier wird ständig genetzwerkt, sind die Verflechtungen kompliziert und die Reiz-Reaktions-Muster simpel, kann jede Ehrverletzung oder unbeglichene Schuld jedem, wie jeder weiß, das Leben kosten. Doch abseits der eruptiven, wie eh und je blutspritzenden Mordszenen, die addiert wahrscheinlich kaum eine der 210 Minuten füllen, zeigt der Film diese Welt nicht im Ausnahmezustand, sondern in schnöden Arbeitssituationen. Die Gangster-Meetings in den einschlägigen Steakhäusern und Bars sind Drehbuch und Darstellern vor allem Anlass zu trockenem Humor, mit Namensverwechslungen, Missverständnissen und affektierten Gesten.
Der Unterschied im Ton wird durch nichts so deutlich wie durch Joe Pescis Figur: Bufalino ist das im Temperament denkbar größte Gegenstück zu den beim nichtigsten Anlass explodierenden Psychopathen in GoodFellas. Und er ist, wie er da mit gütigem Gesicht im Restaurant sitzt, mit einer Kopfbewegung und einem Augenkneifen die Situation kontrolliert und jederzeit mit bedauernder Stimme ein Todesurteil fällen kann, ungleich gefährlicher (wenn ich mich in dem Hauptdarsteller-Triumvirat für eine beste Performance entscheiden müsste, wäre das die des viel zu selten zu sehenden Pesci).
Für den früher ganze Filme prägenden Energieüberschuss ist diesmal allein Al Pacino zuständig. Er gibt Hoffa lustvoll als aufbrausenden Exzentriker, der einen Eisbecher nach dem anderen verschlingt, sich Alkoholkonsum in seiner Gegenwart verbittet – was erfinderische Geschäftspartner schon mal veranlasst, vorher Melonenstücke heimlich mit Rum zu tränken – und sich über die Mafiosi, die offenbar alle „Tony“ heißen, lustig macht. Sein Respekt-Hahnenkampf mit dem Gangster Tony Pro, dem er nicht verzeihen kann, fünfzehn Minuten zu spät zu einem Treffen gekommen zu sein, gehört zu den komischsten Szenen des Films und denen, die seinen Fall in die Ungnade mitbesiegeln.
Zugleich ist der mächtige Gewerkschaftsboss, an dessen Bürofenster das Kapitol im Abendlicht schimmert, die Schnittstelle in die große Politik. Dass Robert Kennedy als Justizminister bald Jagd auf ihn macht, verstimmt Bufalinos Leute umso mehr, als sie dessen Bruder zum Präsidenten gemacht haben wollen – wovon Bufalino mit der gleichen Selbstverständlichkeit redet, mit der er Castros Kuba zu seiner natürlichen Einflusssphäre zählt. Über den Film hinweg versorgen eingeblendete TV-Schirme Figuren und Zuschauer mit den zentralen Nachrichten – das JFK-Attentat, die Kubakrise, das Verschwinden Hoffas –, die mehr oder weniger mit der Handlung verzahnt scheinen; das glanzlose mafiöse Geschäft durchdringt in The Irishman das ganze Land und seine Geschichte.
„I don’t feel anything“

Das Verschwinden des realen Hoffa wurde nie aufgeklärt, der Gewerkschaftsführer 1982 für tot erklärt, die Behauptung des realen Sheeran (der 2003 verstarb), ihn ermordet zu haben, gilt als zweifelhaft. Doch wenn Scorsese hier eine mögliche Lüge als Wahrheit inszeniert, dann nur, um Franks Lebenslüge zu entlarven. Denn was immer das Motiv seiner confessions ist, von einer läuternden Einsicht in die Verantwortung für sein Tun gibt es keine Spur. Allein einen Unschuldsverlust vermeldet Frank lakonisch gleich im ersten Satz – einst habe er „Häuser streichen“ noch buchstäblich verstanden (und nicht als Metapher für Mord). Doch von der Erschießung eines Soldaten im Italien des Zweiten Weltkriegs, den er, in der Ursünden-Szene des Films, zuvor sein eigenes Grab ausheben ließ, bis zu seinem finalen Verrat sieht Frank sich selbst als einen, der immer irgendwie hineingeraten ist, ein ausführender Söldner.
Er wolle seine „Familie beschützen“, behauptet er. Tatsächlich kommt Familie im Film kaum vor, es gibt, natürlich, regelmäßige Taufszenen, einmal zertritt Sheeran jemandem für die Ehre seiner Tochter die Hand – aber davon abgesehen, scheint sein Leben davon kaum berührt. Eine Scheidung wird im Vorübergehen abgehakt, und in den wenigen Momenten, in denen Frauen überhaupt eine Rolle spielen, zeigt Scorsese sie als von den Geschäften wie den Schmeicheleien der Männer unbeeindruckt. Immerhin, als Tochter Peggy (Anna Paquin), die als einzige nicht nur Statistin bleibt, ihn am Telefon nach dem Verbleib des von ihr verehrten Hoffa fragt, wird er beim Versuch zu lügen stottern.
Ein Tröster war Scorsese nie und ist es mit dem dreieinhalbstündigen Desillusionierungsmonster Irishman weniger denn je, tröstend ist der Film allein als Zeugnis einer ungebrochenen erzählerischen Kraft. Der Abgesang auf eine Welt, die den Filmemacher zeitlebens obsessiv beschäftigt hat, fühlt sich so in keinem Moment wie der Abschied eines Künstlers an (und wurde mir in keinem Moment lang), seine Stimme ist dringlich und sein Blick hellwach wie eh und je. Sein Wegbegleiter Robert De Niro indes fügt Figuren wie Travis Bickle, Jake La Motta oder Rupert Pupkin mit Frank Sheeran eine weitere hinzu, deren Regungen wir ganz nah kommen und die uns doch ein Rätsel bleibt. Schon weil sie sich selbst opak ist. Schwer zu sagen, aus welchem Bedürfnis der alte Mann seine Stimme überhaupt erhebt als aus dem, die Tür zu seinem Sterbezimmer noch einen Spalt offen zu lassen. „I don’t feel anything“, sagt er dem Pastor, der ihm am Ende die Beichte abnimmt und ihm versichert, dass die Reue von Gott selbst dann angenommen würde, wenn man sie innerlich nicht spüre. Als könnte man Schuld mit einer Geste loswerden wie die Mordwaffen, die man nach Gebrauch ins Wasser wirft – ein weiterer Running Gag des Films, nach dem am Meeresgrund vor den Küsten Amerikas das Arsenal für eine ganze Armee liegt.
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Kommentare
Mike Bielski
Leider ist diese Filmkritik - wie auch auch der Film selbst - ziemlich enttäuschend.
Zuerst zum Film: Dreeinhalb Stunden Scorsese, Robert De Niro, Al Pacino, Joe Pesci - und zu keiner Minute kommt das Gefühl von Good Fellas, Casino oder Mean Streets (Scorseses ersten "Mafiafilm") auf. So beeindruckend die Produktion auch ist - durch CGI wurden die Schauspieler wirklich perfekt verjüngt - so unoriginell ist die Story, so eindimensional bleiben die Charaktere. Es wird viel geflucht, manchmal blitzen recht geistreiche Dialoge kurz auf, aber neu ist da null. Wie ein zweiter Aufguss Filterkaffee. Das Ganze hätte auch auf 90 Minuten gekürzt werden können und es hätte NICHTS gefehlt. Ich hab den Film erst gestern gesehen, die Eindrücke sind also noch sehr frisch.
Zur Filmkritik: Wo ist die Kritik, wo die eigene Meinung? Dafür eine detaillierte Beschreibung der Handlung, die dennoch kleine Fehler enthält, zum Beispiel wird die Melone natürlich nicht mit Vodka, sondern weißem Bacardi-Rum gefüllt. (was mit dem im Film thematisierten Hintergrund der Kubakrise ein nicht ganz unwichtiges Detail ist).
Schade. Aber Nichts für ungut, Scorsese hat zweifelsohne gleich mehrere Meilensteine der Filmgeschichte geschaffen und erst kürzlich mit seiner Kritik an den ganzen Superheldenfilmen eine erschreckende Entwicklung aufgezeigt.
Maurice
@Mike Bielski: Mit dem Rum haben Sie natürlich völlig recht, danke für die Korrektur. Meine Meinung zum Film hätte, so hoffte ich, u.a. durch die Gegenüberstellung mit GoodFellas deutlich werden sollen. Vermutlich im Gegensatz zu Ihnen war es gerade der sehr abweichende Tonfall bei sehr ähnlichem Sujet, der mich sehr für den Film eingenommen hat.
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