Das Mädchen mit der Nadel – Kritik

MUBI: Charles Dickens trifft David Lynch. Magnus von Horns Film erzählt von einer berüchtigten historischen Serienmörderin, stellt sie aber keineswegs als durchgeknallte Perverse dar. Vielmehr übersetzt sich die Brutalität, die Arbeiter im Kopenhagen des frühen 20. Jahrhunderts tagtäglich erfahren, in den Mord an Kleinstkindern.

Dagmar Overby war nicht nur Dänemarks berüchtigtste Serienmörderin, sie war auch Geschäftsfrau – und damit das perfekte Emblem für eine Zeit, in der das Elend der Menschen massenhaft kapitalisiert wurde. Overby gab sich im Post-Erster Weltkriegs-Kopenhagen als Adoptionsagentin aus und überzeugte Frauen, die ihre Kinder nicht selbst großziehen wollten oder konnten, sich ihr anzuvertrauen. Die Vermittlungsgebühr strich sie ein, die Kinder ermordete sie. Schließlich flog sie auf, wurde festgenommen, ihre Taten schockierten das ganze Land. Magnus von Horn nähert sich dem historischen Fall in Das Mädchen mit der Nadel aus der Perspektive einer ihrer Opfer.

Horn taucht seinen Film in ein sattes Schwarz-Weiß. Eine naheliegende Wahl für einen Film, der die Zuschauer rund hundert Jahre zurück in die dänische Hauptstadt führt. Doch das kontrastreiche Schwarz-Weiß hat nicht nur einen historisierenden Effekt, es dient auch dazu, die Enge der Zeit und des Milieus zu verstärken. Denn das Kopenhagen der späten 1910er Jahre ist eines der industriellen Revolution, in der ein Heer von Proletariern schlechte Arbeit für wenig Geld unter miserablen Bedingungen erledigt. Eine aus diesem Heer ist Protagonistin Karoline, die in einer Nähfabrik arbeitet. Ganz zu Anfang des Films verliert sie ihre Wohnung, die sie allein – ihr Mann ist noch nicht aus dem Krieg zurückgekehrt – nicht finanzieren kann. Sie muss umziehen in eine Wohnung, die im Schwarz des Films wie der dunkelste Ort der Stadt wirkt.

Posttraumatische Verheerungen

Ihre Welt ist eine der engen Gassen und Hinterhöfe, überall sind Grenzen gesetzt. Durch den Mangel an Farbe erhält das Bild von Das Mädchen mit der Nadel eine weitere Rahmung: Der Bildausschnitt und damit die Welt hören da auf, wo sie ins ewige Schwarz übergehen. Die Fabrikwelten der industriellen Revolution in Schwarz-Weiß zu zeigen, legt eine Spur zu David Lynchs The Elephant Man, doch wo seine Bilder auch eine Weichheit kennen, ist hier alles hart und grimmig. In dieser unbarmherzigen Welt passiert Karoline schließlich ein vermeintliches Wunder: Der junge Fabrikbesitzer wird auf sie aufmerksam, eine rauschhafte Liebesbeziehung beginnt. Doch als aus ihr ein Kind hervorgeht, interveniert seine Mutter und stellt den Sohn vor die Wahl: Familienerbe oder die Beziehung zu Karoline.

Parallel dazu erzählt der Film die Rückkehr von Karolines Ehemann Peter, den der Krieg verwundet und entstellt hat. Sein Aussehen wird von einer Prothese geprägt, die die Hälfte seines Gesichts überdeckt. Noch bevor Karoline bei Dagmar Overby landet, versuchen sie ihre Ehe fortzusetzen, die posttraumatischen Verheerungen machen ein Zusammenleben jedoch unmöglich. Später wird Karoline ihren Mann in einer Zirkusvorstellung wiederentdecken, als „Sensation“ soll er den Kopenhagenern zur Unterhaltung dienen. Immer wieder grüßt Horn so in Richtung David Lynch und auch in die der Bildwelten von Tod Brownings „Freaks“. Horn errichtet die Zirkusbühne als fantastische Gegenbildwelt zur harten Backsteinrealität der Arbeitsstätten und Mietskasernen.

Allein und mit Kind gerät Karoline schließlich in die Fänge von Dagmar Overby, die sich ihrer annimmt, Karolines Baby angeblich weitervermittelt und die Protagonistin schließlich bei sich aufnimmt. Karoline fängt an, für sie zu arbeiten und kommt Overby nach und nach auf die Schliche.

Unbarmherzig wie die Welt um sie

Karoline und ihre verhinderte Cinderella-Geschichte ist das trojanische Fiktionspferd, das Horn in den historischen Fall um Dagmar Overby einschleust. Sobald Karoline bei ihr angekommen ist, wechselt der Film den Fokus und konzentriert sich auf die Serienmörderin. In einer Mischung aus Historiendrama, Charles-Dickens-Roman und True Crime-Thriller nähert sich der Film einer Figur, die sich von vielen anderen Serienmörder-Charakteren unterscheidet. Denn Dagmar Overby wird nicht als mordlüstern oder pervers dargestellt. Stattdessen geht von ihr die Brutalität aus, die gesellschaftlich tagtäglich auf die Arbeiterklasse wirkt. Das Mädchen mit der Nadel ist ein Film darüber, wie Armut und Elend die Menschen brutalisieren, sich in ihre Gesichter, in ihre Körper und schließlich in ihre Seele einschreiben, sie für das Leid anderer unempfindlich machen. Overby verbreitet auch deswegen so einen Schrecken, weil sie kalkuliert-kapitalistisch vorgeht. Ihren Kundinnen erzählt sie die Geschichte, die sie hören möchten, von Arztehepaaren, die sich nun um ihre Kinder kümmern. Sie betreibt Storytelling und Marketing, dahinter steht der serielle Mord an Kleinstkindern.

Horn nimmt den realen Fall der Dagmar Overby und überspitzt ihn zu einem Schauermärchen auf die moderne kapitalistische Gesellschaft. Die dänische Serienmörderin zeigt er als Frau, die genauso unbarmherzig ist, wie die Welt um sie herum. Damit betreibt der Regisseur keinen historischen Relativismus. Overby bleibt das Monster, das sie auch damals schon war. Aber er taucht ihre Welt ins Schwarz und macht sie dadurch erst deutlich.

Den Film kann man bei MUBI streamen.

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