The Five Devils – Kritik
Die achtjährige Vicky kann die Erinnerungen anderer Leute riechen und kommt so einem nie erloschenen Begehren ihrer Mutter auf die Spur. Léa Mysius’ Film The Five Devils ist eine sinnliche Reise, die in einem flammenden Inferno endet.

Abklingende Schreie, noch bevor das erste Filmbild erscheint: Eine Gruppe Turnerinnen steht in ihren glitzernden Kostümen vor einem in Flammen aufgehenden Gebäude, mit dem Rücken zur Kamera. Joanne (Adèle Exarchopoulos) schnauft angestrengt, wendet sich scheinbar dem Publikum zu, blickt uns verzweifelt an. Was zuvor passiert ist, erfahren wir erst später, doch die bedrückende Stimmung, die den ganzen Film durchdringt, wird uns bereits in den ersten Sekunden klar vermittelt. Die Geräuschkulisse in The Five Devils ‒ verzerrte Tierlaute und andere Klänge werden kontrastiert mit einem eingängig-poppigen Soundtrack ‒ ist faszinierend chaotisch, die Bilder scheinen unruhig und rastlos. In dem sichtbar auf 35 mm gedrehten Film bewegt sich die Kamera so, als wolle sie sich an die Figuren heranschleichen. Wie ein heimlicher Verfolger ist sie dabei nie ganz ruhig, immer leicht in Bewegung.

Auf diese Weise werden wir durch die Welt der cinq diables, so heißen die fünf Berggipfel, die das fiktive Dorf inmitten der Auvergne-Rhône-Alpes umgeben, geführt. Die achtjährige Vicky (Sally Dramé) lebt hier mit ihren Eltern, Joanne und Jimmy (Moustapha Mbengue), deren Beziehung erkaltet ist. Das Mädchen besitzt die erstaunliche Fähigkeit, jeden Geruch in seine Einzelteile zu zerlegen und so zu reproduzieren. Die eigenhändig erzeugten Düfte sammelt sie sorgfältig in beschrifteten Gläsern, so auch heimlich den ihrer geliebten Mutter Joanne. Als Julia (Swala Emati), Jimmys psychisch angeschlagene Schwester, auftaucht, kreiert Vicky auch ihren Geruch ‒ und wird plötzlich in Julias und Joannes gemeinsame Erinnerungen an ihre Beziehung vor zehn Jahren katapultiert. Diese ungewöhnliche Zeitreise wird im Film erfrischend selbstverständlich erzählt, nichts wird erklärt, vieles wird im Unklaren bleiben. Gerade das ermöglicht es, die kreierte Welt ernst zu nehmen und sich ganz auf die Atmosphäre einzulassen.
Auf der Suche nach der verlorenen Liebe

Nicht zuletzt deswegen wirkt The Five Devils wie ein französischer Verwandter zu Jordan Peeles durch und durch US-amerikanischen Filmen, besonders zu Get Out (2017) und Wir (2019). Auch in Peeles Werken sind die Sinne, besonders das Sehen, stets zentraler Bestandteil der Geschichte. Gleichermaßen in Léa Mysius’ erstem Film von 2017, Ava, in dem die namensgebende, heranwachsende Protagonistin zunehmend ihr Augenlicht verliert. In The Five Devils sind Blicke ebenso entscheidend. Der liebende Blick, den sich Joanne und Julia teilen, als sie beim Karaoke-Abend zusammen Bonnie Tylers Total Eclipse of the Heart singen, der entsetzte Blick Jimmys, der genau in dem Moment begreift, dass das flammende Begehren der beiden nie erloschen ist, oder der eingangs erwähnte, suchende Blick in die Kamera.

Allerdings ist es der Geruchssinn, den Mysius ins Zentrum ihrer Geschichte rückt und der ungleich schwerer zu ergründen ist. Beschreiben lassen sich Gerüche zwar, nicht aber begreifen. Wohl deswegen taten ihn Philosophen wie Immanuel Kant oder Georg Wilhelm Friedrich Hegel als niederen Sinn ab. In der Romantik hingegen schafft nicht das rationale Denken, sondern sinnliche Erfahrung eine Annäherung an die Wirklichkeit. In dieser Tradition kommen dem Erzähler in Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit Erinnerungen aus Kindheit und Jugend, als ihm eine Madeleine serviert wird.
Sinnlicher Existenzialismus

Eine Tradition, in der auch Mysius steht, auch wenn sie diesen Madeleine-Effekt abwandelt und ihre Protagonistin Vicky nicht in die persönlichen Erinnerungen, sondern in die Zeit vor der eigenen Geburt eintauchen lässt. Die Liebe Joannes zu Julia stinkt ihr nicht nur aus einer kindlichen Eifersucht heraus gewaltig, sondern wirft vielmehr existenzielle Fragen auf: Würde sie existieren, wären Joanne und Julia ‒ wie geplant ‒ gemeinsam Richtung Marseille durchgebrannt? Und so mixt sie der lästigen Fremden in der filmischen Gegenwart nicht nur ein ekelerregendes Gemisch aus Urin und gekochtem Raben, sondern mischt sich auch mehr und mehr in die fremden Erinnerungen ein ‒ denn Julia, das ist entscheidend, kann sie darin sehen. Immer wenn sich die Liebenden zu nahe kommen, wenn sie sich berühren, tritt Vicky fortan als Störfaktor auf.

Mysius schickt uns dabei auf eine sinnliche Reise, die aber nicht unpolitisch bleibt. Unter der idyllischen Oberfläche des Alpendorfes brodeln Rassismus und Homophobie, die zuletzt in einem flammenden Inferno gipfeln. Am Ende wissen wir, wem der verzweifelte Blick Joannes inmitten des lodernden Feuers tatsächlich gilt und welches tragische Ereignis dahintersteckt. Als wir mit diesem Bild in The Five Devils einsteigen, folgt direkt darauf die Kälte; Joanne schwimmt im eiskalten See. Höchstens 20 Minuten, mehr wären lebensgefährlich. Vermutlich, um überhaupt noch etwas zu fühlen. Begehren verspürt sie in der Beziehung zu Jimmy nicht mehr, weder der Job als Bademeisterin noch das Muttersein erfüllt sie. Bis Julias Rückkehr ein Feuer entfacht. Ein Feuer, das diesmal, so bleibt zu hoffen, weiterglüht. Vielleicht hilft dabei ja ein weiteres Element. Der Wind, der von Danit mit Cuatro Vientos im Abspann herbeigesungen wird.
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