Le démantèlement – Kritik
Der alte Mann und die Farm. Sébastien Pilote beobachtet den Abschied von einem Leben.

Angeblökt werden, ein Leben lang. Der Farmer Gaby (Gabriel Arcand) arbeitet seit jeher auf der Farm seines Vaters im Norden Quebecs und züchtet Schafe. Er hat das Grundstück übernommen, als seine Brüder Reißaus nahmen vor dem Landleben. Er hat versucht, hier eine Familie zu gründen, doch auch von ihr ist nur noch Gaby zurückgeblieben. Seine seit zwanzig Jahren von ihm geschiedene Frau lebt in der nächsten Kleinstadt, seine zwei Töchter in Montréal.
Es scheint, als sei dieses Leben Gabys Bestimmung, der wortkarge Protagonist lässt zunächst kaum eine andere Lesart zu als die eines Mannes, der im Reinen ist mit sich und seiner bescheidenen Welt. Als die ältere Tochter Marie (Lucie Laurier) ihm vorhält, er habe in seinem Leben vielleicht drei freie Tage gehabt, entgegnet er kühl, es hätten auch nur zwei sein können. Und überhaupt, wie erklärt man einem Schaf, dass Samstag ist? Gaby ist eins mit seiner Farm, ruht in sich wie in ihr, was das Gleiche ist. Das übrige Leben kreist um diesen Ort-Menschen, dessen Hund ihn mit treuen Augen anblickt. Der alte Mann als Insel, an die ab und an etwas angeschwemmt wird: Sein Buchhalter bringt ihm einen Computer, den er nicht anrührt, seine Nachbarn einen Kuchen, Marie kommt mal mit den Enkeln, die jüngere Tochter Frédérique (Sophie Desmarais) deutlich seltener. Gabys Passivität verwechseln wir schnell mit Zufriedenheit. Und so ist der Schock groß, als der alte Mann nach dieser gelungenen Exposition beginnt, mit dem Gedanken zu spielen, die Farm, sein Leben, zu verkaufen. Marie will sich scheiden lassen, ist in Geldsorgen, und auch wenn sie einen Verkauf selbst nicht vorschlägt, spielt sie ihre Verzweiflung geschickt aus, erklärt mit Rehaugenblick, es handle sich um 200.000 Dollar.

Es folgt die Tragödie des Abschieds von einem Leben, das schwer übersetzbare démantèlement, von Sébastien Pilote in schlichte wie wunderschön fotografierte naturalistische Bilder gefasst: Gaby spricht mit seiner Bank, bereitet die Auktion von Tieren wie Maschinen vor, sieht sich triste Apartments in der nächsten Stadt an. Doch während dieses tieftraurigen Abschieds lässt Pilote allmählich den Gedanken zu, dass Gaby nicht bloß Opfer emotionaler Erpressung ist, sondern durchaus selbstbestimmt handelt, dass ihm das Wohl seiner Töchter tatsächlich wichtiger ist als die Farm, dass diese Farm überhaupt ein Fluch ist, der sein Leben eher belastet denn erfüllt hat. Wir wissen nicht, ob Gaby dies ernst meint, als er es sagt, oder ob er nur die eigene Entscheidung rationalisieren will. Pilotes Film ist komplexer, als seine schlichte Struktur wie Bildsprache es erscheinen lassen, und Gabriel Arcans Mimik lässt nie hinter die Fassade blicken.
Die Nachricht über Maries Scheidung, die Verhandlungen mit der Bank, das Geständnis seines Plans den Freunden gegenüber – fast immer der gleiche Ausdruck auf Arcans Gesicht. Die Welt verändert sich, ja stürzt ein, im Blick des Alten ist davon nichts zu lesen. Umso wirkungsvoller dann jene Momente, in denen etwas passiert mit diesem Körper, wenn die Augen dann doch mal feucht werden und wir gewahr werden, dass in diesem Menschen etwas vor sich geht, dass die Bitte seiner Tochter ein tiefer Einschnitt in seinem Leben ist – wenn wir auch nicht wissen, ob sich sein Kummer auf die Zukunft (ohne die glücklich machende Farm) oder die Vergangenheit (mit der unglücklich machenden Farm) richtet.

Trotz der Anleihen an King Lear und Balzacs Père Goriot, die Pilote oft betont hat, ist die Stärke von Le démantèlement nicht die Ausweitung einer einfachen Geschichte auf existenzielles Ausmaß. Was den Film faszinierend macht, ist die gekonnte Reduktion, mit der Inhalt und Form verdichtet werden, ohne nach einer Aussage oder Moral zu streben. Pilote riskiert wenig, der Film ruht in sich wie seine Hauptfigur zu Beginn, doch ab und an scheint es nicht nur hinter Gabys Fassade zu brodeln, sondern auch hinter der Leinwand. Diese Momente sind rar, aber wirkungsvoll, lassen sie uns doch am Tragischen der Tragödie zweifeln, an der scheinbaren Deutlichkeit, mit der hier ein Sterben beweint wird. Vielleicht wohnen wir doch einem Akt der Befreiung bei, wer weiß. Und so brodelt es auch in uns.
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