The Deserted – Kritik
Alles nur eine Täuschung: Das Amsterdamer Filmmuseum EYE zeigte im Januar Tsai Ming-Liangs entschleunigte Virtual-Reality-Arbeit The Deserted. Obwohl das geisterhafte Setting wie ein Film funktioniert, erlebt es doch erst durch das neue Medium seine Vollendung.

Vor mir steht eine Art aufklappbare Badewanne, in der, fast bewegungslos, ein benebelter Mann liegt. Ein paar Minuten vorher war noch aus einer anderen Perspektive zu sehen, wie er mit einem Fisch spielt. Der hat sich nun scheinbar in eine nackte Frau verwandelt, die den Badenden am ganzen Körper liebkost. Und obwohl dieser Moment zu diesem Zeitpunkt eigentlich die Hauptattraktion von The Deserted sein sollte, zieht es meinen Blick immer wieder nach rechts, wo sich die schäbige Wohnung zu einer Dschungellandschaft hin öffnet, auf die gerade ein ohrenbetäubender Regenschauer herunterprasselt.
Freiheit der Ereignislosigkeit
In den Filmen des malaysisch-taiwanesischen Regisseurs Tsai Ming-liang muss man das, was gemeinhin im Kino als wichtig gilt, immer wieder hinterfragen. Sie sind derart entschleunigt und im klassischen Sinne ereignislos, dass man als Zuschauer erst gar nicht auf die Idee zu kommen braucht, irgendetwas einfordern zu können. Zugleich verleihen sie uns aber auch eine gewisse Freiheit, weil sie keine konkreten Reaktionen erwarten. Sie leiten den Blick zwar teilweise über Klänge und Bewegungen, aber irritieren auch immer wieder damit, dass scheinbar nichts passiert. Die Filme Tsais schätzen zu lernen heißt deshalb auch, sich mit Langsamkeit und Stillstand abzufinden.

2017, auf dem Filmfestival in Venedig, stellte Tsai seine erste Virtual-Reality-Arbeit vor, die nun auch im Amsterdamer Filmmuseum Eye präsentiert wurde. Während andere Regisseure (wie zum Beispiel Alejandro González Iñárritu) in diesem Medium eher an Situationen als an Erzählungen interessiert sind, so ist The Deserted zwar immersiv, funktioniert aber letztlich doch vor allem als Film.
An den Figuren vorbeischauen
Angesiedelt in Häuserruinen und komplett ohne Dialoge, konfrontiert uns das Setting mit vier Figuren, von denen wohl mindestens drei nicht aus dem Diesseits stammen. Da ist der von Nackenschmerzen geplagte Mann (Lee Kang-sheng, der hier an seine Figur aus The River (1997) anknüpft), der apathisch auf der Couch liegt oder Linderung in der Wanne sucht. Dann eine Art Mutterfigur, die ihm Essen zubereitet, ohne von ihm wahrgenommen zu werden. Vermutlich in einem anderen Teil des Gebäudes haust außerdem eine Frau mit weißem Kleid, die wie eine sitzen gelassene Braut wirkt und meist in wartenden Posen verharrt. Und schließlich erscheint noch eine weitere Frau, die vielleicht einmal die Freundin des Kranken war, ihm nun plötzlich in der Wanne, nur um kurz darauf wieder zu verschwinden.

Aufgeteilt ist diese „Geschichte“ in verschiedene Szenen, meistens in Innenräumen; oft auch in den gleichen, aber aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Der Zuschauer muss dabei zwar auf roten Sesseln sitzen bleiben, doch mit denen kann man sich zumindest drehen. Aber eigentlich scheint die meiste Zeit ohnehin klar zu sein, wo die Musik spielt. Dreht man sich einmal von den Figuren weg, sieht man oft nur Bäume, einen matschigen Boden oder eine schimmelige Decke. Doch gerade in Tsais Welt lässt sich nie so genau sagen, was denn nun das entscheidende Ereignis ist. Zumindest nicht immer zwangsläufig das, was die Figuren tun: Mal sind sie statisch, dann mit redundanten Handlungen beschäftigt, die wie in einem Loop um sich selbst kreisen (etwa, wenn der Mann seine Rückenschmerzen mit Elektroschocks behandelt, wodurch sich ein hypnotischer Groove entwickelt), dann aber auch wieder den rudimentären Plot vorantreibend.
Durch und durch ein Geisterfilm
Wenn gerade wieder alles stillsteht, dreht man sich im Raum herum, entdeckt dabei oft nichts (wobei es diese Kategorie hier eigentlich gar nicht gibt), manchmal aber auch schöne Details wie einen nervös flatternden Nachtfalter oder einen im Dreck sitzenden Frosch. Suchen und zurückgeworfen werden sind zwei typische Muster in Tsais Filmen – und auch hier wieder, nur das diesmal nicht alles in einem zweidimensionalen Bild verdichtet ist und das Suchen mehr Körpereinsatz erfordert.

Es gibt aber noch einen triftigeren Grund dafür, dass das alles letztlich doch nicht nur Kino sein kann, sondern in einer computergenerierten Umgebung stattfinden muss. Denn The Deserted ist durch und durch ein Geisterfilm: Er spielt an einem verlassenen Ort und erzählt von Figuren, die vielleicht gar nicht existieren. Selbst als Besucher schwebt man nur unsichtbar im Raum. Sieht man etwa an sich herunter, ist da nur der Boden. Was Tsai uns also präsentiert, wirkt keineswegs wie eine virtuelle Realität, denn er versucht nicht, die Wirklichkeit zu simulieren. Vielmehr hat er etwas geschaffen, das derart von irrealen Erscheinungen bestimmt ist, dass es sich damit selbst als Täuschung offenbart.
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