The Delay – Kritik
The Delay zeigt die Diskrepanz aus Liebe und Überforderung im Kontext familiärer Verantwortung.

Die erste Szene verrät bereits den Grundton des ganzen Films. Agustín (Carlos Vallarino) sitzt schwer atmend auf einem Hocker in einem engen Badezimmer unter der Dusche. Die Kamera ist hautnah an ihn herangerückt, sie erdrückt ihn beinahe. Wasser prasselt über jede einzelne Falte des alten Körpers. Dann kommt seine Tochter María (Roxana Blanco) hinzu. Routiniert schrubbt sie ihm den Rücken. Den Rest will der alte Mann selber erledigen. Ein letztes Stück Würde, das er sich bewahren will, für María unnötiger Übermut, aus dem Verletzungen und zusätzliche Arbeit resultieren könnten. Schließlich lässt sie ihn gewähren. Für María ist er Vater und Kind in einem, denn Agustín leidet an Alzheimer. Eine geliebte Person, die ihr gleichzeitig eine Verantwortung abverlangt, die sie überfordert.

In der Wohnung erwartet sie Chaos: Jedes ihrer drei Kinder hat ein anderes Anliegen, das sie der Mutter unabdinglich kundtun. Das winzige Badezimmer mit dichten Dampfschleiern ist genauso trist wie die restlichen zwei Zimmer. Die enge, verwinkelte Wohnung steht in The Delay (La demora) symptomatisch für Marías familiäre Pflichten, die ihr Leben als Alleinerziehende mit pflegebedürftigem Vater komplett einnehmen und sie zu erdrücken drohen. Sachlich-nüchtern ist sie gewohnt zu funktionieren. Jedoch sind die Szenen, die die hohe Belastung für alle Familienmitglieder zeigen, auch gespickt mit kleinen Gesten der Zuneigung. Diese verschiedenen Stimmungen lesen wir in vorwiegend nahen Einstellungen von den Gesichtern der Figuren ab.
Rodrigo Plá inszeniert die räumlichen Innenansichten bedrückend klaustrophobisch als mit Mensch und Gerümpel vollgestopften Lebensraum. Als Ort für Privatsphäre bleibt einzig die Toilette. Freie Entfaltung ist nicht möglich, ständig wird die Sicht von einer Tischkante oder einem Türrahmen beeinträchtigt. An der spartanischen Einrichtung und der zerschlissenen Kleidung können wir die Armut der Familie ablesen. Die graubraune Farbpalette, in der der Film gehalten ist, verstärkt diesen Eindruck und symbolisiert gleichzeitig die Eintönigkeit des Alltags.

Bereits Plás erster Spielfilm La Zona (2007) basiert auf einer Vorlage seiner Frau Laura Santullo. Mit The Delay hat er ihre Kurzgeschichte La espera (Das Warten) auf die Leinwand gebracht, für deren Spielort er nach zwei mexikanischen Produktionen in sein Heimatland Uruguay zurückgekehrt ist. Dort kritisiert er die herrschende soziale Ungerechtigkeit, zeigt beiläufig die prekären Arbeitsverhältnisse in einer Nähfabrik, für die auch María arbeitet, oder die desaströsen Verhältnisse alter Menschen in Notunterkünften. Während María zu viel verdient, um für ihren Vater einen Platz in einem öffentlichen Pflegeheim zu bekommen, kann sie sich ein privates wiederum nicht leisten.
Als Vater und Tochter bei den Behörden sitzen, um besagten Heimplatz zu beantragen, wird ihre Beziehung beispielhaft abgebildet: María und der Beamte verhandeln in der Gegenwart von Agustín über dessen Zukunft wie Mutter und Rektor über die Aufnahme eines Kindes in eine Schule. Dessen betretener Blick oszilliert zwischen der Erkenntnis seiner Überflüssigkeit und zeitweiligen Orientierungs- und Gedächtnisverlust.

Kurz nach dem Termin lässt María ihren Vater quasi im Affekt alleine auf einer Bank neben einem Hochhausblock zurück. Der weigert sich bis spät in die Nacht hinein trotz eisiger Kälte, und sogar in Konfrontation mit der Polizei, seinen Standort zu verlassen, da er felsenfest von der Rückkehr seiner Tochter überzeugt ist. Was bis hierhin eine eindrucksvolle Milieu- und Familienstudie darstellte, erfährt durch Marías Verzweiflungstat samt ihrem Reueprozess mit anschließender panischer Suche nach dem Vermissten eine unnötige Dramatisierung. Allzu deutlich stößt uns der Regisseur noch einmal auf Aspekte ihrer Beziehung, die wir auch aus der zuvor subtileren Darstellung herauslesen konnten: Der Großvater ist alleine hilflos, niemand kann sich so gut um ihn kümmern wie seine eigene Familie, trotz aller Anstrengungen liebt María ihren Vater sehr. Die Einführung außerfamiliärer Personen bleibt in Bezug zu Agustíns Krankheit konturlos und erscheint überflüssig.

Zu Beginn zeichnet The Delay ambivalent und alltagsnah die Dynamiken einer in ärmlichen Verhältnissen lebenden Familie im Angesicht der Alzheimer-Erkrankung des Großvaters. Leider verspielt Rodrigo Plá hierauf durch einen forcierten, narrativen Höhepunkt sowie inhaltliche Plakativität die Chance auf ein tatsächlich interessantes Familienporträt.
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