Tár – Kritik

Machtmissbrauch mit Mahler und #MeToo. Cate Blanchett steuert als übergriffige Dirigentin Lydia Tár in den Untergang. Statt daraus ein lupenreines Lehrstück zu machen, konzentriert sich Todd Field auf die Grauzonen und aufs Surreale.

Es beginnt mit einer Szene hinterm Vorhang. Cate Blanchett streicht mit dem Zeigefinger mehrmals über die Nase, angespannt zupft sie am Hemdkragen, zieht das Jackett glatt. Dann schließt sie die Augen und atmet tief ein. Eine junge Frau, offenbar ihre Assistentin, reicht Handdesinfektionsgel, Pillen und ein Glas Wasser. Erst nach diesem Ritual blickt sie in die Kamera und betritt mit energischen Schritten die Bühne.

Q & A mit Blanchett/Tár

Cate Blanchett spielt Lydia Tár, eine charismatische amerikanische Dirigentin und Komponistin, die gerade den begehrten Chefposten bei den Berliner Philharmonikern ergattert hat – eine Sensation in der männerdominierten Klassikwelt. Dazu soll sie nun vor Publikum interviewt werden – und zwar von Adam Gopnik, dem bekannten New-Yorker-Autor. Gopnik spielt sich selbst, stellt anspruchsvolle Fragen zu Geniekult, Leonard Bernstein, Frauen am Dirigentenpult und Mahlers Fünfter Sinfonie. Blanchett antwortet mit dunkler Stimme und cooler Eloquenz – fast so, als schauspielere sie gar nicht, sondern spreche über sich selbst.

Nicht zufällig erinnert die Szene an Gesprächsformate, wie man sie von Festival-Talks oder aus Masterclass-Videos kennt. Ob ihre vielen gegensätzlichen Interessen für ihre Karriere nützlich seien, wird die Schauspielerin gefragt und antwortet als Lydia Tár: Nein, Vielseitigkeit werde heute eher als Nachteil angesehen. Dieses Spiel mit Fiktion und Realität bekommt noch einen zusätzlichen Dreh, wenn man durch die aktuelle Ausgabe des New Yorker blättert und darin prompt ein Interview mit Cate Blanchett über Tár und die Kunst des Schauspielerns im Leben und im Film findet – geführt hat es Adam Gopnik.

Egomanischer Führungsstil

Die Eingangssequenz setzt den Ton für dieses Drama, das hinter den Kulissen des hochneurotischen E-Musikbetriebs spielt und als Psychothriller angekündigt ist. Tatsächlich geht es um Macht und Missbrauch, Starkult, Manipulation und folgenschwere Racheakte. Doch der Film startet erstmal fast dokumentarisch mit langen, beobachtenden Einstellungen, die an die Machart einschlägiger Musikerporträts wie etwa Igor Levit. No Fear (2022) erinnern. Regisseur und Drehbuchautor Todd Field zeigt Lydia Tár im Gespräch mit Kollegen, als Lehrerin an der New Yorker Musikakademie, bei Orchesterproben in Berlin und beim Schneider, der ihr die Dirigentinnen-Uniform anpasst. Dabei entsteht das Bild einer extrem begabten, mal mitreißenden, mal eiskalt agierenden Künstlerin, die sich nicht nur beim Dirigieren, sondern auch, was den egomanischen Führungsstil angeht, an den großen Macho-Maestros misst: Bernstein, Levine und Barenboim lassen grüßen.

Die Mischung aus Bossiness und Hypersensibilität spielt Blanchett so überzeugend, dass man ihr auch dann noch fasziniert folgt, wenn das Verhalten ihrer Figur zunehmend unsympathisch wird. Etwa wenn sie kaltblütig einen alten Orchesterkollegen feuert und die Stelle nicht, wie offenbar versprochen, ihrer treu ergebenen Assistentin anbietet, sondern einem Mann von außen. Man spürt, die Dirigentin braucht die harte Aura – ebenso wie die maßgeschneiderten Anzüge –, um sich im männlich geprägten Klassikbetrieb durchzusetzen. Lydia lebt mit Kind in einer lesbischen Beziehung, ihre Partnerin Sharon (Nina Hoss) ist Kapellmeisterin des Berliner Orchesters. Sie sind ein eingespieltes Team, die große Leidenschaft aber scheint vorbei. Zum Komponieren und später auch für Seitensprünge flüchtet die Dirigentin häufiger in ihre Altberliner Zweitwohnung, während Sharon und Töchterchen Petra im stylisch-kühlen Familienloft vergebens auf sie warten. (Kunst-Insider werden in der Location den modernistischen Bungalow wiedererkennen, den sich Sammler Christian Boros auf den Hochbunker in der Berliner Reinhardtstraße bauen ließ.)

Auch im Dirigentenalltag deuten sich Konflikte an: Tár brüskiert langjährige Orchestermitglieder, weil sie einen Solopart eigenmächtig an eine neue Cellistin vergibt, zu der sie sich sexuell hingezogen fühlt. Zudem kündigt sich Ärger um eine ehemalige Studentin und ihre persönliche Assistentin an. Es gibt Drohungen, kompromittierende E-Mails, ein bösartiges TikTok-Video und schließlich einen Selbstmord, für den Tár verantwortlich gemacht wird. Langsam, aber unausweichlich steuert die arrogante Dirigentin auf ihren eigenen Untergang zu. Inwiefern die Vorwürfe gegen sie gerechtfertigt sind, bleibt dabei bis zum Schluss unklar.

Der Kontrollverlust wird sichtbar

Eine Hochmut-kommt-vor-dem-Fall-Geschichte, die Regisseur Field komplett aus der Binnenperspektive seiner fallenden Protagonistin erzählt. In den ruhig beobachtenden Handlungsfluss mischen sich surreale Szenen: Lydia reißt Schränke und Türen auf, um die Quelle eines nervtötenden Geräuschs zu finden, im Keller begegnet sie einem zähnefletschenden Hund. Der Kontrollverlust wird sichtbar.

Die New York Times titelte: „Finally, A Great Movie About Cancel Culture“ und bezeichnete Tár als Gegenstück zu She Said, Maria Schraders Spielfilm über den Harvey-Weinstein-Fall und die Geburt der #MeToo-Bewegung. Dass auch Todd Field sich Allmachtsgehabe und Machtmissbrauch im Kulturbetrieb zum Thema macht, dabei den Spieß aber umdreht und eine mächtige Frau zur übergriffigen, uneinsichtigen Täterin macht, scheint erstmal gewagt. Doch er versucht gar nicht, daraus ein lupenreines #MeToo-Lehrstück zu machen. Stattdessen konzentriert er sich auf die Grauzone, in der schon diffuse Anschuldigungen und Gerüchte reichen, um eine Karriere zu zerstören. Und er zeigt den Downfall eher als Psychogramm einer komplizierten Künstlerpersönlichkeit, die auf der Höhe des Erfolgs den eigenen Kompass verliert. Tár öffnet so einen größeren Denkraum, in dem überkommene Traditionsmuster und Machtstrukturen im Kulturbetrieb geschlechterübergreifend hinterfragt werden. Und in dem Frauen nicht automatisch die besseren Menschen sind.

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