Sweet Thing – Kritik

Alexandre Rockwell nimmt eine früh beschädigte Jugend mit Glücksmomenten in den Blick. Sweet Thing ist ein Close-up-Film, in dem Farbtupfer und Fantasien erhalten bleiben, aber auch der Sprung ins Meer kein Ausweg ist.

In der ersten Farbsequenz, oder explizit: Buntsequenz, des größtenteils schwarz-weißen Films taucht Billies Mutter (Karyn Parsons) das erste Mal auf, ihrer Tochter zärtlich die lockige Mähne frisierend, und das ist natürlich ein Sehnsuchtsbild, vielleicht eine Erinnerung, vielleicht eine Fantasie; die Abwesenheit der Mutter ist vorher längst aufgefallen. Mit ihrem Vater und ihrem kleinen Bruder Nico (Nico Rockwell) lebt Billie (Lana Rockwell) im Hafenort New Bedford, Massachusetts, eine sich irgendwie zusammenraufende Notgemeinschaft, die sich an Weihnachten mit in Zellophan eingewickelten Geschenken beglückt und mit der Funktionalität von Familie wenig gemein hat. Wie auch, bei einem Vater, der Hallodri, Kumpel, Spaßvogel, Gentleman sein kann, aber vor allem verzweifelter Trinker ist, den schon die Verantwortung für sich selbst überfordert, dessen Kontrollverluste für die Kinder und speziell Billies Mähne, die allzu sehr an die Mutter gemahnt, auch mal bedrohlich werden können.

Auf die Mutter nicht zu bauen

Kein Kindheitsparadies, kein Idyll, ein früh beschädigtes Leben mit Glücksmomenten. Intaktester Trostspender ist die Musik, die nach Billie Holiday benannte 16-jährige Hauptfigur singt auch selbst und fantasiert sich ihre Namensgeberin als gute Fee im verwaschenen Schwarz-Weiß herbei. Alexandre Rockwells Sweet Thing ist ein Close-up-Film, die Kamera immer ganz dicht dran an den Körpern der jungen Protagonisten, bewegt sich ungestüm wie sie, behält sie auch innehaltend im Blick; ein Streit zwischen Mutter und Vater auf einer Straßenkreuzung ist am vernehmbarsten im lang anhaltenden Gegenschuss auf Billies und Nicos Gesichter, die traurig, aber nicht überrascht sind über den geplatzten gemeinsamen Restaurantbesuch.

Die ersehnte Mutter ist also nicht gestorben, sondern wohnt nur mit neuem Freund um die Ecke, und wenn sie die Kinder während der Entziehungskur des Vaters bei sich aufnimmt, könnte das von einer Sehnsuchtserfüllung nicht weiter entfernt sein, auch wenn Beaux’ Strandhaus die attraktivere Location ist. Vom beschädigten Leben in den Abgrund. Sie trinken auch, aber anders, sagt Billie über ihre Mutter und Beaux, einem Ungetüm von Mann, der Name rekordverdächtig kontrafaktisch. Mit ihm halten Gewalt und sexueller Missbrauch Einzug und die schreckliche Erfahrung, dass auf die Loyalität der Mutter nicht zu bauen ist. Dem Sozialrealismus kehrt der Film bei alledem nie den Rücken, aber lässt ihn auch nicht die Perspektive der Kinder diktieren, in der die Farbtupfer und Fantasien erhalten bleiben, die umgekehrt aber, selbst momentweise, nie ein vollgültiger Ausweg sind. Die Realität verschwindet nie ganz, auch nicht, wenn sich Billie ins befreiende Meer stürzt.

Zurück ins beschädigte Leben

Der Hauptteil des Films ist dann aber doch eine Flucht, unternommen aus gutem/schrecklichem Grund, zusammen mit dem Nachbarjungen Malik (Jabari Watkins), und eine Weile führen die drei ein Leben in Freiheit als Outlaws, hauen mit dem Auto ab, nisten sich in einer verlassenen Villa ein – ein dort jäh von der Veranda ins Wohnzimmer spazierender junger Hirsch gehört zu den magic moments des Films –, schließen Freundschaft mit an den Strand versprengten Trailerbewohnern, schlingen den leckersten Thunfischauflauf aller Zeiten in sich hinein. Wie ältere Verwandte der Kids aus The Florida Project[LINK] machen sich die drei ihr Umfeld als Abenteuerraum zu eigen, bis die Spielregeln der erwachsenen Ordnung dann doch zurückkehren. Für einen der drei wird das schlimme Konsequenzen haben.

Die Handlung trüge denn auch die Möglichkeit eines tragischen Endes in sich, aber weder zurück in den Abgrund noch zurück in die Fantasie führt Sweet Thing ganz zuletzt, sondern zurück in das früh beschädigte Leben mit Glücksmomenten – das kommt, dramaturgisch gedacht, etwas abrupt, passt dann aber doch ganz gut zu einem, man darf das Wort nicht nur wegen der Close-ups riskieren, lebensnahen Film, und dass dieses Leben nach dem Filmende weitergehen und vieles darin nicht gut gehen wird, ist ohnehin klar.

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