Suspended Time – Kritik
Berlinale 2024 – Wettbewerb: Bitte nicht aufregen. Olivier Assayas hat eine Petitesse von einem Film gedreht und dabei sogar eine Erkenntnis gehabt.

Mehr als drei Jahre sind seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie vergangen, als Olivier Assayas im Frühjahr 2023 seinen Lockdown-Film Suspended Time (Hors du temps) dreht. Das ist viel und wenig zugleich. Die Distanz zum Geschehen, im Kinosaal heute ohnehin, aber auch schon beim Dreh ist massiv. Insofern ist dies kein Covid-Film, wie es sie aus der Unmittelbarkeit heraus schon mehrfach gegeben hat, sondern gewissermaßen ein Post-Covid-Film, der mit dem Wissen des Danach auf diese Zeit zurückblickt. Schließlich hat sich das Verhältnis zu dem, was in den westlichen Gesellschaften in diesen drei Jahren passiert ist, in der Zwischenzeit mehrfach und ziemlich radikal verändert. Das ist die Herausforderung, der sich der Film stellen muss, als einer der mit gewisser Distanz kommt, das ist die Herausforderung, die im Rahmen eines Kinospielfilms kaum zu erfüllen ist, brauchen doch schon Entwicklung und Finanzierung in aller Regel Jahre.
Ohne Bruch und Abgrund

Assayas entscheidet sich für drei Dinge: Humor, Hochkultur und Selbstreflexion. Die autobiografischen Setzungen sind enorm: Vincent Macaigne spielt eine Variante von Assayas selbst (ganz schön jung), wird aber Paul genannt. Das Setup ist einfach: Paul und sein Bruder Etienne (Micha Lescot) sind mit ihren Partnerinnen in das Familienhaus auf dem Land geflohen, kurz bevor der Lockdown kam, und jetzt sind sie da, im paradiesischen Frühling, und müssen miteinander (und sich selbst) klarkommen. Die Neurosen des einen sind plötzlich die Verantwortung aller. Paul ist hardcorestreng, was die Maßnahmen angeht, seinem Bruder, einem Musikjournalisten, fällt es schwer, das immer ernst zu nehmen.
Diesem Regisseur, der biografisch Assayas gleicht, erfolgreich ist, kürzlich in Kuba gedreht hat, und ein Kind aus früherer Beziehung hat, gibt Macaigne das, was Macaigne quasi allen seinen Figuren gibt: eine nervöse, labile Angestrengtheit, die schon für sich genommen schwer auszuhalten ist, die aber vor allem im Covid-Kontext ziemlich, nunja, einfältig wirkt. Weil darin absolut kein Bruch zu erkennen ist, kein Abgrund, keine Herausforderung. Erzählerisch ist das locker gehalten, es gibt einen Off-Erzähler, der in das Anwesen und die Geschichte der Familie Assayas einführt, viele Landschaftsaufnahmen vom schönen Frühling (2020 hatte ja wirklich einen tollen Frühling), und eine Prise Ironie im Verhältnis zwischen Belanglosigkeit der Situationen und Ernst des Protagonisten, der sein Handy zwischen Ästen befestigt, um den Videocall mit seiner Therapeutin abgeschieden von den anderen zu führen.
Privilegiencheck zum Schein

Die Prise Ironie ist aber wirklich nur eine Prise, denn die Selbstreflexion, die Assayas anstrengt, ist keine, die ihn in irgendeiner Weise groß exponieren oder in Gefahr bringen würde. Die Auslassung etwa, dass Assayas als 65-Jähriger mit einer 11-jährigen Tochter im Lockdown auf spezifische Weise mit Fragen des Alterns und des Sterbens konfrontiert war, ist alles andere als trivial. Augenscheinlich wird das vor dem Hintergrund, dass Assayas sich mithilfe von geradezu didaktischen Dialogen den Fragen seiner Klassenprivilegien entledigt und so tut, als würde er diese reflektieren: Was es etwa heißt, im Lockdown ein Landhaus zu haben, zu erben und wieder zu vererben, und ohnehin kaum Sorgen zu haben außer der aktuellen Infektion.
Vor dem Hintergrund der massiven gesellschaftlichen Verwerfungen, die die Pandemie beschleunigt hat, könnte man Suspended Time auch als dreist bezeichnen. Zwar übt sich der Film in Leichtigkeit, doch der Humor, mit dem er die eigene Leidenschaft für Hochkultur ausstellt, ist keine, die gesellschaftliche Gräben in den Blick nimmt, sondern eine, die das bürgerliche Leben als schrullige Eigenheit zu rechtfertigen sucht. Dass Assayas ein Bewusstsein dafür hat, wird gerade am Schluss sehr offensichtlich. Umso schwerer wiegt die Petitesse, die dieser Film letztlich ist.
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