Sunset – Kritik
Der Abgrund ist dunkel und das reicht: In seinem neuen Film Sunset setzt László Nemes der Gesellschaft Budapests kurz vor dem 1. Weltkrieg den Luxushut auf und ergötzt sich am langen Schatten seiner Krempe.

Obwohl am Beginn des Films nur eine einführende Bemerkung zur Lage der ungarischen Hauptstadt im Jahre 1913 geschrieben steht, wirkt der Hinweis zum historischen Status Budapests als multilinguale Metropole wie ein Vorgriff ins Hier und Jetzt. Schnell dürfte die Bezeichnung heutige Beispiele wie Berlin, Paris oder London auf den Plan rufen, und tatsächlich taucht Budaepests Verhältnis zu den anderen modernen Hauptstädten Europas in Laszlo Nemes’ Sunset immer wieder beiläufig auf. Von einem eigenen Triumphbogen ist einmal die Rede, während ein anderes mal jemand proklamiert, dass die anderen Metropolen gerade gespannt auf die ungarische Hauptstadt schauen dürften.

Grund dafür ist die Marke Leiter, ein Budapester Luxushersteller für Hüte. Ein ungarisches Burberry oder Chanel sozusagen, das die High Society in Ungarn bis hoch zur Familie der amtierenden Habsburger Doppelmonarchie Österreich-Ungarn bekleidet. Seit einem Brand in der eigenen Manufaktur, bei dem das Gründerpaar ums Leben kam, ist die Marke aber nicht mehr in Familienbesitz. Lediglich Iris Leiter (Juli Jakab), die Tochter der Familie, hat als Kind in Wien gelebt und macht sich 15 Jahre später zu Beginn des Films ganz unverhohlen beim neuen Chef des Hutherstellers vorstellig – um der Vergangenheit der Eltern und ihren Todesumständen nachzuspüren.
Historische Perspektive

Schon die Einstiegsnotiz bringt also Fragen nach einer Bewandtnis für die Gegenwart mit. Der bald zehn Jahre währende Rechtsruck Ungarns hatte beim jüngeren Autorenkino des Landes bereits unterschiedliche filmische Perspektiven hervorgebracht: etwa einen fantastischen Blick in den Filmen Kornél Mundruczós, durch den sich in Underdog (2014) hunderte Hunde zu einem riesigen Aufstand gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse formierten, oder in Jupiter's Moon (2017) ein Geflüchteter zu fliegen begann. Árpád Bogdán wiederum entwarf im letzten Jahr mit Genezis (2018) einen sozialrealistischen Film, der sich mit Neonazi-Anschlägen auf ungarische Roma-Dörfer beschäftigte.

Nemes lässt mit Sunset nun den Blick in die nationale Geschichte schweifen, und ein wohlhabendes, bewusst romantisches Budapest aufleben: In nostalgischen Sepia-Tönen eingefasst, haftet sich die Kamera dicht an die Fersen von Iris, die ihren Seidenkragen mit Spitze aufrecht stehen hat und deren Rosa-Luxemburg-Frisur meist zur Hälfte von einem Leiter-Hut mit weiter Krempe, mal mit Schnalle, mal mit Federn, bedeckt ist. Zusammen mit ihr durchschreitet der Film pompöse Schlösser und Gärten, sieht Männer mit Smoking und Frauen mit ausladenden Kleidern an sich vorbei gehen. Sieht aufwändig ausgestattete Gärten mit weißen Autos, weitläufige Räume mit hohen Decken und eine wohlhabend-feine Gesellschaft, die zahlreiche Dialekte spricht.
Freud’sche Verbrecher

Sunset ist aber kein Verweis auf eine Zeit, an der sich das heutige Ungarn ein Beispiel nehmen sollte, besteht eben nicht in der nostalgischen Beschwörung der Metropole samt seiner multikulturellen Gesellschaft, wie es am Beginn suggeriert wird. Vielmehr will Nemes die Fassade langsam bröckeln lassen, will die darunter liegenden Aggressionen und die dunkle Seite einer Gesellschaft porträtieren, die kurz davor steht, in den Ersten Weltkrieg zu ziehen. Die Suche nach der eigenen Vergangenheit führt Iris auf die Spur ihres eigenen Bruders, dessen Ruf als brutaler Mörder sich als kollektive Angst über die Figuren des Films gelegt hat.

So entfaltet sich ein Mystery-Plot, der Iris auf Personen treffen lässt, die alle ständig mehr zu wissen scheinen als sie selbst. Rätselhaft flüsternde Männer (Variationen zwischen „Gehen Sie fort von hier“ und „Noch diese Woche wird hier Blut fließen“) sind in diesem Budapest besonders häufig anzutreffen. Männer, die ungeachtet ihrer Herkunft oder sozialen Schicht in jeder Szene drohen, sich in einen Alptraum für Iris zu verwandeln. Überall entsteht eine bedrohliche Spannung, die sich in Sunset nicht selten gewaltsam entlädt: Schwer atmend und verstört durch die Szenen wandernd, wird Iris im Schlaf überfallen, von dreckigen Händen begrapscht, später sogar Zeugin von Vergewaltigungen und Morden. Historische Szenen, in denen der Zeitgenosse Sigmund Freud aus Wien grüßt: als würde eine ganze Gesellschaft ihr Unbewusstes auf einmal entblößen.
Diffuses Gesicht

Dass Iris ständig im Dunkeln tappt, ist dem Film dabei regelrecht anzusehen: Sunset frönt dem ästhetisch Diffusen. Lediglich vereinzelte Schlaglichter scheinen in die Innenräume des Films zu dringen, der Rest bleibt häufig bis zur Unkenntlichkeit verdunkelt. In der Nacht ist das Außen von Kerzen beleuchtet, der Blick des Zuschauers kann das Bild nur erschwert durchdringen. Am Tag muss eine Figur lediglich einen Leiter-Hut aufsetzen, um ihr Gesicht im Schatten verschwinden zu lassen. Auch die langen Kamerafahrten, die meistens Iris in den Fokus nehmen und die Welt um sie herum verschwommen lassen, erfüllen hier nicht mehr eine politische Funktion, wie noch in Nemes’ Oscar-Erfolg Son of Saul (2015), sondern stemmen in Sunset vielmehr eine Narration, die ebenso diffus strukturiert ist. Es scheinen nämlich nur lose Fäden zu sein, die die Erzählung des Films zusammenhalten. Eher wirkt Sunset wie eine Aneinanderreihung sinistrer Situationen, deren Verbindung nur aus Iris’ Anwesenheit besteht.

Der Film durchquert in diesen Situationen dabei allerlei Schichten (von den Arbeitern über das Bürgertum bis zum Adel), erwähnt auch politische Akteure und gesellschaftliche Neigungen (nationalistisch-separatistische bis okkulte Gruppierungen sind anzutreffen), aber das Hauptinteresse an scheint dann doch immer wieder eine Auflösung in Geheimnis, purer Aggression, Gewalt und Bedrohung zu sein. So sieht Nemes’ Wohlstandsgesellschaft wohl aus, in der sich die meisten einen Hut von Leiter leisten können. Das Gesicht bleibt unkenntlich, die Dunkelheit des Schattens ist faszinierend genug.
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