Leto – Kritik
VoD: Gitarren, Schlagzeug und Gesang reichen schon, um die Jugend der Breschnew-Ära zusammenzuschweißen. Kirill Serebrennikovs Leto wirft einen wehmütigen Blick auf die Zeit eines Aufbruchs und zeigt sie unverhohlen als Idyll.

Der junge Rockmusiker Wiktor Zoi und der etwas ältere Sänger Mike Naumenko sprechen über jene Musik, die ihnen in ihrem Leben am meisten bedeutet hat. Mike erwähnt die Wirkung der Liedtexte von Lou Reed und reicht Wiktor – nach der Nachfrage, wie gut sein Englisch sei – ein Notizbuch, in das er Reeds Lyrics handschriftlich eingetragen hat. Möglicherweise fehlerhaft, räumt er ein, denn er habe sie vom Anhören der Platten transkribieren müssen. In dieser doppelten Übersetzung – vom Klang zur Schrift und dann, beim Lesen, von der fremden in die eigene Sprache – wird in Kirill Serebrennikovs Leto die ambivalente Stellung deutlich, die amerikanische und britische Popmusik in weiten Teilen der nicht-englischsprachigen Welt stets einnahm: Diese Musik fordert es heraus oder ist zumindest darauf angelegt, dass man sich mit ihr identifizieren und sie zum Träger der eigenen Individualität machen will – und doch muss sie einem stets ein wenig fremd bleiben, da sie einem sprachlichen und kulturellem Umfeld entspringt, das nicht das eigene ist.

Dieses Gefühl einer zugleich schmerzhaften wie verheißungsvollen Distanz war für die sowjetische Jugend während der 1980er Jahre ein bestimmendes Merkmal der westlichen Popmusik, ja bildete vielleicht sogar den Kern ihrer Wirkung. Denn nicht nur wurde hier in einer fremden Sprache gesungen, von Menschen, die an Orten lebten, die man selbst nie zu Gesicht bekommen hatte, sondern die Musik wurde auch von offizieller Seite als ideologisch fragwürdig betrachtet, als ein Erzeugnis des welthistorischen Gegners. Umso mehr schien sie als geeignetes Mittel, um jene gesellschaftlichen Freiräume, die durch die Lethargie der späten Breschnew-Jahre nolens volens entstanden waren, aufzuspüren, zu erkunden und vielleicht zu erweitern.
Ein Aufbruch, zu unentschlossen, um zur Revolte zu werden

Leto schaut mit vertrautem und wehmütigem Blick auf diese Zeit eines unbewussten Aufbruchs zurück – eines Aufbruchs, der nie entschieden und energisch genug war, um sich zu einer Revolte zu verdichten, der aber dennoch von einem euphorischen Gefühl der Freiheit und Ungebundenheit geprägt war. Serebrennikovs Film zeichnet dabei in erster Linie das Bild einer weitverzweigten und konfliktfreien Gemeinschaft, die zur Gänze durch die Musik versammelt und strukturiert wird. Man probt, man tauscht sich über Gehörtes und Selbst-Komponiertes aus, man trifft sich zu spontanen und geheimen Konzerten in irgendwelchen Wohnungen, oder man verbringt einen Tag am Meer, um sich gegenseitig Lieder vorzuspielen und dann, ganz euphorisch infolge dieses gemeinsamen Erlebens, in die Wellen zu springen und durch die Flammen eines großen Lagerfeuers zu hüpfen. Sprachliche Kommunikation, Selbstentblößung, der mühsame Abgleich konkurrierender Wünsche und Lebensentwürfe – all das scheint hier nicht notwendig, all das wird durch die Musik ersetzt. Der Klang von Gitarren, Schlagzeug und Gesang scheint völlig auszureichen, um die Menschen in einem umfassenden Einverständnis zusammenzuführen.
Ein Bild, das man dem eigenen Leben entgegenhält

Es ist ganz unverhohlen ein Idyll, das Serebrennikov in Leto entwirft, die sentimentale Vorstellung eines Milieus, das es zwar tatsächlich gegeben hat, das aber wohl nie von einer derart lückenlosen Harmonie durchdrungen war. Aber obwohl Serebrennikov diese Zeit ganz bewusst ein wenig verklärt, gibt sich der Film selbst nie vollständig dieser Verklärung hin, stellt sie vielmehr selbst als solche aus. Ständig weist Leto auf die zeitliche Distanz zu den dargestellten Ereignissen hin, und das nicht nur zum Zweck einer historischen Einordnung, sondern als Rahmen, durch den allein das Gezeigte seine eigentliche Bedeutung erlangt: Es ist keine Vergegenwärtigung, die hier stattfinden soll, sondern ein Blick zurück – durch den die Gegenwart mindestens ebenso deutlich spürbar wird wie die dargestellte Vergangenheit. Seine offene Sentimentalität rückt diesen Blick selbst in den Mittelpunkt, sie verweist auf die gegenwärtigen Zwänge, die ihn geformt haben, und lässt die Enttäuschungen, die sich zwischen dem Damals und dem Heute ereignet haben, schmerzhaft erahnen.

Dieser Balanceakt einer emotionalen Nähe, die mit einer solchen Emphase aufgeladen ist, dass sie immer auch distanzierend wirkt, entgleitet Serebrennikows Film nur an einzelnen Stellen: vor allem in jenen Sequenzen, in denen die Figuren in einem öffentlichen Raum, in einer Straßenbahn etwa oder auf einer nächtlichen Straße, plötzlich gemeinsam mit den gerade anwesenden Menschen ein Lied von Iggy Pop oder Lou Reed anstimmen; ein spontaner Gesang, wie ein Musikvideo in Szene gesetzt, mit grafischen Einblendungen, einer betont unbeholfenen Choreografie und hastig ins Bild gekritzelten Textzeilen. In diesen Momenten scheint der Film selbst ganz gerührt zu sein von der eigenen Naivität, scheint ganz in einem Zustand der Unschuld zu schwelgen, ohne jedoch den Impuls für dieses Schwelgen erfahrbar zu machen – einen Impuls, der eben selbst nicht mehr Teil der Unschuld sein und darum nur als deren Störung in Erscheinung treten kann. Vielleicht weist Leto aber gerade in diesen Szenen, die in ihm wie Fremdkörper wirken, auf eine grundlegende Eigenschaft des Idylls hin: Es ist in seiner Wirkung ganz wesentlich auf die Distanz, auf die Unerreichbarkeit, auf das Nicht-Erreichen-Müssen angewiesen. Das Idyll existiert nicht als ein realer Zustand, in den man tatsächlich eintreten will, sondern es existiert immer nur als ein Bild, das man dem eigenen Leben entgegenhält.
Der Film steht bis 28.06.2022 in der Arte-Mediathek.
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