Stranger – Kritik

Anonymer motorisierter Killer verfolgt Taxifahrerin: Wie in Spielbergs Duel entzieht sich die Bedrohung allen Definitionsversuchen. Das japanische Direct-to-Video-Highlight Stranger ist ein präziser, von Bewegungen und Blicken her gedachter Thriller.

Kiriko lebt allein. Beziehungsweise nur mit einem Fisch. Den schaut sie manchmal durch das Aquariumglas hindurch an, und gelegentlich spricht sie ein paar Worte zu ihm. Von Beruf ist sie Taxifahrerin. Mit ihren Kunden interagiert sie nicht mehr als unbedingt notwendig. Auf Smalltalk- oder Anmachversuche (in der Welt des Films fällt beides fast durchweg in eins) reagiert sie schlicht überhaupt nicht, und selbst beim Bezahlen schaut sie ihren Passagieren nicht ins Gesicht. Sie wartet einfach stoisch, geradeaus nach vorn durch die Windschutzscheibe blickend, bis die ihr das Fahrgeld nach vorne durchreichen und anschließend das Auto verlassen. Die nuancierte Deadpan-Performance der Hauptdarstellerin Yuko Natori, die auch für Hideo Gosha und Nobuhiko Obayashi vor der Kamera stand, gehört zu den großen Stärken des Films.

Mit der gleichen Taktik hält sie sich auch die anderen Taxifahrer (es sind ausschließlich Männer; überhaupt taucht im ganzen Film nur einmal eine andere Frau auf, die mehr wäre als eine Statistin – auch mit ihr will Kiriko nichts zu tun haben) vom Hals. Die ungelenken, harmlosen Avancen eines rundlichen Kollegen wimmelt sie einsilbig ab, den auch nicht gerade geschickten, aber nicht ganz so harmlosen eines jüngeren Fahrers entzieht sie sich entsprechend bestimmter. Den beiden Mechanikern, die ihr auf dem Nachhauseweg von der gegenüberliegenden Straßenseite aus zuwinken, gönnt sie hingegen ein Lächeln. Aus der Distanz findet sie mitunter Gefallen an der Performanz von Männlichkeit. Nur auf die Pelle rücken soll ihr keiner.

Es rückt ihr aber jemand auf die Pelle. Ein Auto heftet sich ihr an die Fersen, ein dunkler, fetter, schmutziger Jeep. Mal parkt er in der Nähe ihres Apartments, mal taucht er im Rückspiegel auf und bleibt dort einfach kleben, ganz egal was sie macht. Etwas später knallt zum ersten Mal ein Hammer durch das Seitenfenster ihres Taxis, der erste von mehreren Anschlägen auf ihr Leben, alle brutal und schnell und zielstrebig und unpersönlich durchexerziert. Der Angreifer bleibt anonym und unsichtbar, fast ist es, als würden die Waffen, die er einsetzt und auch der Jeep, den er fährt, autonom handeln.

Den anonymen, motorisierten Killer, der mit dem Fahrzeug, in dem er sitzt, zu verschmelzen scheint, hat sich Stranger, ein Highlight des japanischen Direct-to-Video-Filmschaffens, zweifellos von Spielbergs Duel (1971) ausgeborgt. Wie im amerikanischen Vorbild entzieht sich auch in Shunichi Nagasakis Version die Bedrohung allen Definitionsversuchen. Mal glaubt Kiriko, den Mann im Jeep an seiner versehrten Hand erkennen zu können, mal meint sie in ihm einen früheren Lover zu erkennen, mal fragt sie sich, ob der Jeep vielleicht nur in ihrem Kopf existiert. An der maschinellen Oberfläche des absoluten Bösen perlen alle Hypothesen ab.

Stranger ist ein Meisterstück der kleinen Form. Ein ökonomischer, präziser Thriller, der von Bewegungen und Blicken her gedacht ist und seine Figuren nicht auszuerklären versucht; der aber trotzdem nicht auf eine bloße Stilübung reduzierbar ist, sondern als ein grundlegend offener Text immer wieder neue Perspektiven auf seine Figuren und seine Welt ermöglicht. Das liegt zum einen an überraschenden Tempowechseln: Entschleunigte Trips durch das nächtliche Tokio, unterlegt von hypnotischem Minimal-Elektro, gehen unvermittelt über in krasse Genre-Affekte, und in das Meer der Schweigsamkeit platzen zwei-, dreimal lange Dialogszenen – in denen Kiriko plötzlich erstaunlich viel von sich preisgibt. Sehnsucht nach Nähe und Liebe scheint durch, ohne eine Perspektive auf Erfüllung freilich.

Die Hauptfigur ist zwar eine coole Einzelgängerin, aber deswegen noch lange keine archetypische „Frau aus dem Nichts“. Sie hat, zum Beispiel, durchaus eine Vergangenheit: Früher war sie Bankangestellte und hatte versucht, gemeinsam mit dem erwähnten Lover Geld zu hinterziehen. Ein Prolog zeigt, warum und wie das scheiterte. Damals, auch das zeigt der Prolog, war Kiriko eine andere Frau. Voluminöse Achtziger-Haare, greller Lippenstift, business casual chique. Jetzt sind die depressiven Neunziger angebrochen, sie hat sich die Haare zurückgebunden, trägt lange Mäntel und dunkle Schals. Geblieben ist ein Accessoire: eine Sonnenbrille. Im Prolog trägt Kiriko sie, weil sie ein Verbrechen zu begehen gedenkt und vermutlich glaubt, eine Sonnenbrille gehöre dazu. Später dagegen benutzt sie sie, um sich die Welt vom Hals zu halten. Ein Effekt des neuen Looks ist, dass er ihr Gesicht akzentuiert – als eine blanke (ungeschminkte) Leinwand, auf die jeder Betrachter etwas anderes zu projizieren vermag. Es zieht unsere Blicke an, und dass es unsere Fragen nicht beantwortet, hindert uns nicht daran, immer wieder neue an es zu richten.

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