Stonewalling – Kritik

Der Mensch als Ware. Im wohl unzensierten Drama Stonewalling pfeift der eiskalte Wind des chinesischen Raubtierkapitalismus durch den Sommer einer unfreiwillig Schwangeren.

Die erste Überraschung kommt noch vor der ersten Einstellung. Da fehlt nämlich etwas: und zwar das Logo der Zensurbehörde, das eigentlich vor jedem chinesischen Film erscheint, um dem jeweiligen Werk ideologische Unbedenklichkeit zu attestieren. Stonewalling vom Ehepaar Huang Ji und Ryûji Otsuka ist indes kein chinesischer Film. Er wurde zwar vollständig in China und auf Chinesisch gedreht und befasst sich ausschließlich mit sozialen Problemen des Landes, gilt aber offiziell als japanische Produktion. Welche Freiheiten sich daraus ergeben, ahnt man bereits, wenn die schwangere Lynn (Yao Hong-gui) in den ersten Minuten vor dem Spiegel ihre schmerzende, aber vor allem entblößte Brust massiert. Noch klarer wird das Ganze, als Lynn später drei uigurische Mädchen aus Xinjiang trifft, deren Ausweise – das erwähnt der Film ebenso selbstverständlich wie nebenbei – von ihren han-chinesischen Aufsehern konfisziert wurden.

Vor allem aber beleuchtet das Regieduo mit schonungsloser Deutlichkeit die Schattenseiten des entfesselten Kapitalismus, der einerseits Entwicklung und Wohlstand, aber andererseits eben auch enorme soziale Kälte mit sich gebracht hat. Selbst zwischenmenschliche Beziehungen haben sich anscheinend in Transaktions-Verhältnisse verwandelt: Als Lynn aufgrund ihrer ungeplanten Schwangerschaft einen Englisch-Kurs abbrechen will, rechnet ihr Freund ihr vor, wie viel Geld er in sie investiert hat. Seine Antwort auf ihre Frage, ob sie abtreiben oder gebären soll, beginnt er mit den bemerkenswerten Worten „Falls ich dich das Kind haben lasse (…)“. Und als ihre Eltern zum ersten Mal von Lynns Freund erfahren, gelten ihre Fragen ausschließlich der finanziellen Lage seiner Familie. Immer wieder wird so offenbar, wie sehr Lynn von anderen abhängig ist, unterwürfig bitten und betteln muss – und sich nur ganz selten leisten kann, ihren Stolz zu behaupten.

Vom schicken Hotel in die Rumpelkammer

Anders als etwa Zhang Miao-yans Black Blood (2011), Return to Dust (Yin ru chen yan, 2022) von Li Rui-jun oder die Filme Wang Bings befasst sich Stonewalling nicht mit den vom Wirtschaftswunder vergessenen Menschen, den Armen. Lynn studiert, um Flugbegleiterin zu werden – ihre Eltern betreiben eine kleine Apotheke. Doch wie prekär selbst die Lage der Mittelschicht sein kann, zeigen Huang und Otsuka unter anderem über die Interieurs: Zu Beginn sehen wir Lynn und ihren erfolgsversessenen Freund in schicken Hotels – in einer bedrückenden, wunderbar ausgeleuchteten Szene sitzt Lynn dort einsam im eleganten Badezimmer, ins Leere starrend, ihr magerer, halbnackter Körper deutet die Zerbrechlichkeit ihrer Lage an. In der zweiten Hälfte liegt sie zumeist in einem düsteren, stickigen Hinterzimmer der elterlichen Apotheke, ihre Schwangerschaft und die mangelnde Unterstützung ihres Freundes halten sie in diesem Raum gefangen. Sie kann nur aus dem Fenster zusehen, wie draußen Millionen Menschen um sie herum Neujahr feiern.

Stonewalling ist keine wütende Anklage, sondern eine bittere Diagnose. Ganz undramatisch, ja nüchtern zeigt der Film, mit welch verzweifelten Mitteln sich die Figuren über Wasser zu halten versuchen. Lynns Mutter hat sich auf ein Pyramidensystem mit Kosmetikprodukten eingelassen. „Diese Creme enthält 28 Kräuter und Quantentechnologie“, preist sie die Vital Cream an, die sie reich machen soll. Eine der Uigurinnen tanzt in einem Hotelzimmer vor – in der Hoffnung, dass der Mann, der sie begutachtet, sie kauft und zur Frau nimmt. Drei potenzielle Eizellen-Spenderinnen müssen neben Rechenaufgaben allerlei Fragen nach ihrem Gewicht, ihrem Bildungsstand, Vorerkrankungen und sexuellen Erfahrungen über sich ergehen lassen – nur wer makellos ist, darf seine DNA an die Oberschicht verkaufen. Wie sehr der Mensch zur Ware werden kann, zeigt nicht zuletzt Lynns Entscheidung, ihr Kind auszutragen, weil dessen Handelswert dank eines zwielichtigen Paktes wirtschaftlichen Nutzen verspricht.

Atemwege frei machen

Gedreht wurde Stonewalling größtenteils 2019. Erst in den letzten Minuten bricht die Corona-Pandemie über Lynn und die Welt herein. Zunächst verkauft Lynn eine OP-Maske noch für 5 Yuan, später sind es schon 25. Dass die rigorosen, rund drei Jahre andauernden Maßnahmen des chinesischen Staates die sozialen Probleme in vielerlei Hinsicht noch deutlich verschärft haben, nimmt der Film mit einer besonders schönen, ganz leisen Szene auf: Lynn steht allein unter eine violetten Lampe, die vermutlich ihre Maske mit UV-Licht reinigen soll. Wir sehen, wie schwer es ihr fällt, zu atmen. Wie so oft, erträgt sie die Situation einfach. Doch irgendwann kann sie einfach nicht mehr, reißt sich die Maske ab und atmet zum ersten Mal seit Langem durch.

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