Sorry We Missed You – Kritik

Ken Loachs Film Sorry We Missed You hat sich zum Ziel gesetzt, unsere Gefühle zu erziehen. Und das darf er auch.

„Was ist mit dem 8-Stunden-Arbeitstag geschehen?“, fragt eine ältere Dame an einer Stelle von Ken Loachs Sorry We Missed You ihre Pflegerin, die jeden Tag bis spät in die Nacht mehrere Patienten betreut – ohne arbeitsrechtliche Absicherung, ohne festes Gehalt, als vornehmlich freie Dienstleisterin. Nicht nur der Inhalt dieser Frage, sondern auch der Tonfall, in dem sie vorgetragen wird, sind emblematisch für Loachs Film: Sorry We Missed You wird getrieben von einer hilflosen Verwirrung darüber, dass eine über viele Jahre und Jahrzehnte langsam zustande gekommene soziale Übereinkunft plötzlich aufgekündigt wurde – so sang- und klanglos, dass die Betroffenen es nicht einmal richtig gemerkt haben.

Diesen handstreichartigen Rückfall in frühere Zeiten beschreibt Loach als Resultat einer umfassenden Fiktionalisierung: In der ersten Szene bewirbt sich der arbeitslose und tief verschuldete Familienvater Richy Turner als Fahrer bei einem Lieferservice. Nach einem kurzen Abriss der Arbeitsbedingungen bekommt Richy von seinem zukünftigen Chef die entscheidende, sprachliche Einweisung: Er arbeite nicht für das Unternehmen, sondern mit ihm. Er sei kein Angestellter, sondern ein selbständiger Fahrunternehmer. Wann er arbeite und wie viel er arbeite – das läge, wie alles andere auch, allein in seinem eigenen Ermessen. Dieses Gerede von Unabhängigkeit und Freiheit ist zwar ganz offenkundig reine Augenauswischerei, aber das ist völlig unerheblich: Die Fiktion ist nicht darauf angewiesen, dass irgendjemand an sie glaubt, sondern nur darauf, dass man sich an ihre Begriffe hält. Wer die Begriffe bestimmt, mit denen ein Arbeitsverhältnis beschrieben wird, der bestimmt auch den rechtlichen Rahmen, in dem es stattfindet.

Eine gezielt schmerzhafte Emotionalität

Sorry We Missed You lebt ganz wesentlich von seiner thematischen Aktualität – gründen sich doch viele der technischen Innovationen, die unser tägliches Leben von einem Tag auf den anderen ungleich bequemer gemacht haben, auf die gewiefte bis dreiste Umgehung rechtlicher Normen und Sicherheiten. Diese Dynamik will Loachs Film nicht etwa ausdeuten oder polemisch kritisieren, er will sie emotional besetzen. Sorry We Missed You ist ganz auf ein Maximum an dramatischer Wucht angelegt, er soll vor allem eine Erinnerung hinterlassen, die so tief sitzt, dass sie unweigerlich durchsickert, wenn man das nächste one-day-delivery-Paket entgegennimmt oder das nächste Mal per Uber für ein paar Euro durch die Stadt fährt. Zu diesem Zweck lässt der Film Richy und seine Familie schnell die ganze Unerbittlichkeit dieses neuen Arbeitsverhältnisses spüren. Zielstrebig zieht Loach die Eskalationsspirale immer weiter an – schließlich ist Richys unternehmerische Freiheit vor allem dadurch geprägt, dass ihm allerlei Risiken aufgebürdet werden, und schließlich wird die Unverhältnismäßigkeit dieser Risiken vor allem dann deutlich, wenn der Schadensfall tatsächlich eintritt.

Die schmerzhafte emotionale Aufladung vollzieht Sorry We Missed You auch dadurch, dass er eine große Distanz zu seinen Figuren aufbaut. Keine persönliche oder emotionale Distanz – seine Figuren sind auf eine einnehmende Art offenherzig, schutzlos und ohne jede Arglist –, sondern eine moralische Distanz. Richy und seine Frau Abby (die oben genannte Pflegerin) arbeiten ganz buchstäblich von frühmorgens bis spät nachts, sie kümmern sich aufopferungsvoll um ihre beiden Kinder, sie beklagen sich nicht und sie weisen nie anderen die Schuld und Verantwortung für ihre eigene Situation zu – sie sind in einem ganz grundlegenden Sinn ohne Fehl und Tadel. Selbst ihre wenigen Momente persönlicher Schwäche sind so umfassend eingebettet in die Darstellung äußerer Zwänge und Belastungen, dass sie sich jedem Urteil entziehen. So leidet man mit diesen sympathischen Figuren und steht gleichzeitig erstarrt vor ihnen: Im Grunde kann man nichts anderes tun, als demütig den Kopf vor ihnen zu senken.

Gegen eine gesellschaftliche Gesamtrechnung

Es mag jetzt vielleicht klingen, als sei Loachs Film eine reine Erziehungsmaßnahme – und bis zu einem gewissen Grad ist er das auch. Aber das ist an sich kein Fehler, das kann und darf ein Film durchaus sein. Sorry We Missed You ist ganz dem Wert und dem Gewicht des individuellen Leids gewidmet, der festen, wenn auch vielleicht nicht endgültigen Einbettung jedes Einzelnen in eine bestimmten Lebenssituation und eine bestimmten Stellung innerhalb des wirtschaftlichen Systems. Er stemmt sich gegen eine leichtfertige gesamtgesellschaftliche Rechnung, in der der massive Nutzen für die Allgemeinheit und die beträchtlichen Lasten für vergleichsweise Wenige einfach gegengerechnet werden. Loachs Film ermahnt nicht zur Einhaltung einer bestimmten Moral, er ermahnt zum moralischen Denken ganz allgemein.

Der Film steht bis 21.10.2024 in der 3Sat-Mediathek.

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