Sophia Antipolis – Kritik

MUBI: Echo eines verbrannten Mädchens. Der französische Regisseur Virgil Vernier erschließt den High-Tech-Standort Sophia Antipolis von den Rändern aus. Und von der Einsamkeit.

Ein schwarzer Edding zieht eine gestrichelte Linie unter eine Brustwarze, umkreist die Brust, schreibt die jeweilige Implantatgröße unter die Brustfalte. Nicht die nackte Haut erzeugt das widersinnige Bild, sondern ihre Kartografie; Bilder von jungen Brüsten gibt es viele, nicht aber davon, wie sie noch sichtbarer gemacht werden, als es ihr schierer Anblick vermag, und wie ihre Sichtbarmachung gleichzeitig die Frage aufwirft nach dem, was wir da tatsächlich sehen. Genauso verhält es sich mit dem Gegenstand des Films, dem Technologie- und Wissenschaftspark Sophia Antipolis bei Antibes an der Côte d’Azur. Zum einen, weil Virgil Vernier einen Ort, der uns in seinen Gestaltungsprinzipien nicht unbekannt sein dürfte, auf eine Weise kartografiert, die mit gängigen Darstellungen und der damit einhergehenden Weltanschauung bricht. Zum anderen, weil die Frage, was wir da eigentlich sehen, zunehmend Besitz ergreift vom Film.

Die Möglichkeit einer Feder

Der in den 1970er Jahren erbaute Unternehmenspark Sophia Antipolis büßt in diesem Film nichts an der seltsamen Faszination ein, die von seinem Namen ausgeht: die Vorstellung einer eleganten und mysteriösen Frauengestalt ungewisser Herkunft; der Kontrast zwischen dem Bezug auf antike Wurzeln und der Künstlichkeit eines aus dem Nichts gestampften Komplexes, der an keine lokale Industrie- oder Forschungstradition anknüpft; der Assoziationsreichtum einer „Antipolis“, einer Gegenstadt, die unweigerlich an den Nicht-Ort, die Utopie, erinnert. Wohl aber verweigert der Film dem Areal den gängigen Bilderfundus des Fortschritts.

Sophia Antipolis ist nicht fortschrittskritisch, sondern interessiert sich schlicht nicht für das, was gemeinhin als Fortschritt bezeichnet wird, misst ihm keine Bedeutung bei. Der Film erschließt das gleichnamige Gebiet von den Rändern aus. In der Gestalt von zwei Wachen, zum Beispiel, kreuzt er soziale und zeitliche Ränder. Er zeigt Nachtarbeit, die darin besteht, den leergefegten Unternehmenspark mit einer Taschenlampe zu durchforsten, auf der Suche nach den Störfrieden der hiesigen Ordnung: ein küssendes Paar, ein trauerndes Mädchen. Den Pfau, der sich ab und an blicken lässt, sehen sie nicht – als hätte er sich aus Protest versteckt. Einzig eine Feder lesen die beiden auf, ein großartiger Hoffnungsschimmer in diesem so beklemmenden Film; es ist die Möglichkeit eines Anderswo, eines weniger hässlichen, weniger harten, weniger einsamen Anderswo.

Die letzten Menschen

Denn Sophia Antipolis erzählt vor allem von Einsamkeit. Auf den ersten Blick schwirrt eine Vielzahl von Themen durch diesen Film, interessanterweise just die, mit denen einige TV-Formate zu locken gewohnt sind und die nicht selten als Symptom eines kranken Zeitalters herhalten müssen: Schönheitschirurgie, Sekten, Bürgerwehren, Mord. Bei Vernier aber bleibt das Reißerische aus, sind es nur verzweifelte – und vom Regisseur nicht verurteilte – Versuche mit offenem Ausgang, der eigenen Existenz Sinn zu stiften. Sophia Antipolis zeigt Menschen, die für sich zeitweise Räume öffnen, in denen andere Spielregeln gelten.

Es sind gesellschaftliche Nebenräume: das Treffen einer Sekte, bei der ein Teilnehmer angewiesen wird, sich fallen zu lassen; das Training einer Bürgerwehr, bei der ein Mitglied Beleidigungen und Drohungen über sich ergehen lassen muss. Die Einsamkeit sickert durch den ganzen Film. In einer großartigen Szene ziehen zwei Mitglieder der Sekte durch ein nobles Viertel, um ins Gespräch zu kommen. Sie klingeln an jeder Tür, werden aber systematisch per Sprechanlage abgewiesen. Die Szene hat etwas Postapokalyptisches, strahlt ein unsichtbares Übel aus, ähnlich einem verseuchten Gebiet, das kein Leben mehr bergen kann. Es erwächst die furchtbare Vorstellung, dass sie die letzten Menschen sind und die Stimmen in den Sprechanlagen nur eingespeichert.

Archaische Zukunft

Es ist kein Zufall, dass Vernier all diese losen Geschichten – die Wachen, die Sekte, die Bürgerwehr – durch die Gestalt eines zu Tode verbrannten Mädchens miteinander verknüpft. Verknüpfen meint hier indes nicht, dass sie aufgrund des Mords aufeinandertreffen, sondern dass jede für sich ein Echo der Existenz dieses Mädchens abgibt. Seine Geschichte wird nur insoweit erzählt, wie sie sich in den einzelnen Geschichten der Protagonisten einfügt. Dabei umhüllt Sophia Antipolis gerne im Ungewissen: Vielleicht war das tote Mädchen eines der Mädchen, die einen Termin beim Schönheitschirurgen für eine Brustvergrößerung hatten; vielleicht ist das tote Mädchen diese verschwundene Tochter, um die eines der Mitglieder der Sekte trauert.

Dass in diesem Film die Geschichte eines unbekannten Opfers nur in den Geschichten gegenwärtiger Protagonisten ans Tageslicht tritt, wirft die Frage auf nach dem Gedächtnis einer Gesellschaft und ihrer geschichtlichen Verankerung. Sophia Antipolis ist auch ein Film über Zeit und Geschichte, erstmal, weil er sich in einem Gebiet einrichtet, dessen Name einige Jahrtausende zurückweist, aber das die Menschen zu nie dagewesenem Fortschritt erheben möchte. Dann natürlich, weil Vernier beschlossen hat, den High-Tech-Standort auf analogem Material einzufangen, sich den Möglichkeiten eben dieser in Sophia Antipolis gefeierten Technik zu entziehen. Die Gesellschaft, die Sophia Antipolis darstellt, ist zeitlich ebenso zerrissen: Mag sie in der Gegenwart angesiedelt sein, sie hat einiges von einer Dystopie, die nicht selten gewisse Kapitel der Geschichte evoziert: Hexenverbrennungen, selbstorganisierte Milizen… Das archaische Element Feuer ist allgegenwärtig und offensichtlich nicht unter Kontrolle. Es birgt aber auch die Möglichkeit des Neuanfangs, wie eine finale Explosion zu verstehen gibt.

Den Film kann man bei MUBI streamen.

Der Text ist ursprünglich am 13.02.2019 erschienen.

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