Sohn der weißen Stute – Kritik
Der Sohn der weißen Stute (1981) kommt zurück in die Kinos, mit der Kraft, Bäume auszureißen, und einem Schwert zwischen den Beinen. Marcell Jankovics’ Animationsfilm ist zugleich Schöpfungsgeschichte und psychedelisches Werden.

An einem Baum mit 77 Wurzeln und 77 Ästen vollzieht sich die Erzählung. Zwischen den Wurzeln hausen 77 Drachen, während sich 77 Raben in den Ästen befinden. Ein König möchte seine drei Söhne vermählen, doch die drei Bräute lassen drei der Drachen frei, welche umgehend die Welt und die königliche Familie unter ihre Kontrolle bringen. Eine Stute kann aber vor den Drachen fliehen und ihr drittes Kind in Freiheit bekommen, versteckt in einer Höhle. Von der Odyssee ihres menschlichen Kindes, das mit seinen drei Brüdern versucht, die alte Ordnung zu restaurieren, erzählt Marcell Jankovics’ Animationsfilm Sohn der weißen Stute.
Schnörkel in der Kantigkeit

Baumausreißer wird dieser halbgottähnliche Mensch genannt, weil er durch das Ausreißen eines Baumes seine Kraft testet. Durch 14-jähriges Säugen der Stute hat er seine Übermenschlichkeit erlangt. Fabelwesen, verwunschene und nur bedingt menschliche Menschen leben an oder in dem von einer göttlichen Symmetrie bestimmten Weltenbaum. Weder wird auf ein Davor noch auf ein Danach rekurriert – oder auf eine Welt außerhalb dieses Baums, der eben schon für die gesamte Welt einsteht. Sohn der weißen Stute erzählt sichtlich ein Märchen, das durchaus wie eine Schöpfungsgeschichte oder wie der Teil eines Kanons von Göttergeschichten wirkt. Nur dass der Bogen zu einem Entstehendem (Volk, Staat, Welt) oder etwas Weiterem gar nicht gespannt wird.

Der Film basiert auf einer Verserzählung des Ungarn László Arany, aber auch auf Legenden dreier Reitervölker – den Hunnen, Awaren und Ungarn. Zeichenstil und Handlungsablauf rekurrieren dann auch auf Vormodernes und Romantisches und sind von einer gewissen Simplizität geprägt. Die Zeichnungen erinnern an Holzschnitte und Ikonenmalerei, gepaart mit expressionistischer Farbigkeit. Statt Details gibt es oft einfarbige Formen, aus denen sich die Figuren und Dinge zusammensetzen. Die gezielten Schnörkel verstärken die Kantigkeit des Ganzen noch. Die drei Brüder lassen sich beispielsweise stärker durch ihre oft monochromen Farben sowie ihre Umrisse unterscheiden als durch ihre Gesichter.
Verloren im Bilderstrom

Die Figuren und ihre Handlungen werden nicht psychologisch entworfen. Es sind vielmehr einfache Ursache-Wirkung-Beziehungen. Wenn die drei Brüder etwa zum ersten Mal aufeinandertreffen, wirken sie wie Antagonisten. Aber ein kurzes Kräftemessen später – sie stoßen sich gegenseitig in die Erde und wer seinen Kontrahenten am tiefsten schlägt, hat gewonnen – ist ihre Beziehung zueinander geklärt. Unsere Hauptfigur, der Baumausreißer, ist der Anführer und seine Brüder seine Gefolgsleute. Zweifel an ihm und seinem Platz in der Welt hat hier niemand.

Manchmal ist es aber trotzdem schwer, den Überblick zu behalten. Immer wieder spielt der Film in Höhlen und Bäumen, so dass schwer zu sagen ist, ob es neue sind oder doch schon wieder die gleichen. Manche Figuren sind sichtlich jemand anderes in gewandelter Form, und überhaupt kann in Sohn der weißen Stute eines für etwas anderes, für vieles oder für alles einstehen. In seiner allegorischen Fantastik gibt es keinen festen Anker. Für das Ausbuchstabieren seiner Geschichte nimmt sich der Film schon gar keine Zeit und prescht am liebsten einfach voran. In seinen Zeichnungen, so einfach die einzelnen Bilder sind, gewinnt Sohn der weißen Stute dann auch seine prägnanteste Qualität, die ihm wohl auch das Prädikat einer psychedelischen Erfahrung verschafft hat. Denn tatsächlich wollen sie nie stillstehen. Die Formen überlagern sich gegenseitig, gehen einander an und ineinander über. Dieser allgegenwärtige Fluss zeigt ein ewiges Werden. Das Einfache der Zeichnungen ist deshalb nicht einfach nur sehr schön, sondern auch notwendig, um in diesem Strom der Bilder nicht völlig verloren zu gehen.
Der Phallus aus dem Koboldbart

Höhlen mit Vulva-förmigen Eingängen spielen eine zentrale Rolle. So zentral, dass es schade ist, dass es kein griffiges begriffliches Äquivalent zum Phallus gibt, der für den Film nicht minder zentral ist. In einer dergestalt weiblich konnotierten Höhle versteckt sich zu Beginn das Pferd. Der Baumausreißer muss wieder in eine Höhle hinabsteigen, um die Welt ins Lot zu bringen – nachdem er sich aus dem sieben Meilen langen Bart eines Kobolds ein Schwert schmieden ließ, das der junge Mann von da an wenig zweideutig zwischen seinen Beinen trägt und mit dem er die Macht des Königs wiederherstellt. Höhlen und Bäume, Vulven und Phalli, Fruchtbarkeit und Zeugungskraft sind der zentrale Antrieb des Geschehens.

Sohn der weißen Stute ist reichlich assoziativ, bietet daher einen freien Interpretationsspielraum. So kann es auch ziemlich reaktionär wirken, wenn Baumausreißer am Ende eine Grundordnung wiederherstellt. (Regisseur Marcell Jankovics musste sich hier wohl den ungarischen Zensoren beugen, die von einer linearen Geschichte träumten, an deren Ende der Sieg des Kommunismus wartete.) Andererseits findet sich in der Geschichte von Geburt bis zur (Selbst-)Ermächtigung auch nur ein Zyklus, was diesem vom Werden besessenen Film vielleicht eher entspricht. Mit seinen teilweise irrwitzigen gestalterischen Einfällen ist Sohn der weißen Stute jedenfalls, so naiv und einfach er einerseits ist, andererseits eine verspielte Würdigung seines Sujets: der Schöpfungskraft.
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