Bis dann, mein Sohn – Kritik
VoD: Wang Xiaoshuai entwirft in Bis dann, mein Sohn ein sich über Jahrzehnte erstreckendes Familien- und Gesellschaftsdrama, bei dem alles im Schatten eines Stausees steht. Nach langem Suchen findet auch der Film ein richtiges Ende.

Der Versammlungsraum einer Fabrik im Norden Chinas, das Jahr 1986. Liyun (Yong Mei) aus der Sortierabteilung und Yaojun (Wang Jingchun) aus der Montagehalle werden vor der versammelten Arbeiterschaft mit einem Preis für Familienplanung ausgezeichnet. Ein gutes Beispiel für die Genossen. Mutter, Vater, Einzelkind – so will es das Ein-Kind-Gesetz, so sehen die Musterfamilien auf großen Propagandaplakaten aus. Aber Liyun war mit dem zweiten Kind schwanger und musste abtreiben. Haiyan (Ai Liya), ihre enge Freundin, ist bei der Fabrik als Familienplanungsbeauftragte eingestellt. Sie hat Liyun zur Abtreibung gezwungen, tat nur ihre Arbeit, jetzt trägt sie die Schuld.
Ein Baum, der im eigenen Innern wächst

Bald werden Liyun und Yaojun von einer zweiten, weitaus schlimmeren Tragödie eingeholt: Ihr kleiner Sohn Xing Xing ertrinkt in einem Stausee. An diesem Stausee beginnt der Film, in seinem Schatten steht alles, was er zeigt. Die beiden werden einen Jungen adoptieren, den sie auch Xing Xing nennen, obwohl er in Wirklichkeit anders heißt. Darüber erfahren wir nichts, aber ein vorbelastetes Familienverhältnis wie dieses, das kann so nicht lange andauern. „Ich bin für euch nicht gut genug“, der zweite Xing Xing will kein Ersatzkind mehr sein. Er schließt sich einer Motorradgang an, alles Straßenkinder, Jungs und Mädels mit zerrissenen Jeans und distinkten Frisuren. Eine schmerzende Lücke mehr im Leben des Ehepaars, statt Xing Xing – eine Staubwolke. Dieser Staub ist das Aufgestaute des Stausees, das unausgesprochene Gefühl der Schuld, dessen, was man getan hat oder ertragen musste. Der Schuldstaub setzt sich auf alten Möbelstücken ab, auf den Esstischen und dem Kassettenspieler. Er kann sich im Bewusstsein zu psychischen Störungen verkrusten oder zu einem Gehirntumor, der auf die Nerven drückt. Eine Figur im Film vergleicht die Schuld mit einem Baum, der in eigenen Innern wächst und eines Tages zu explodieren droht.
Unmöglichkeit des Vergessens

In Bis dann, mein Sohn begleitet der Regisseur Wang Xiaoshuai seine Figuren, die alle miteinander befreundet oder verwandt sind, über einige Jahrzehnte. Der Grundton des Films ist melancholisch, heitere Momente sind rar. Es geht um die Spuren des Politischen und persönliche Entscheidungen, die unter Druck, aus Verzweiflung, Angst oder dem schlichten Mangel an Alternativen getroffen wurden. Bis dann, mein Sohn ist eine Geschichte über Verlust und Reue, über die Unmöglichkeit des Vergessens. Der Film erzählt nicht chronologisch, springt vielmehr aus einem Jahrzehnt in ein anderes und wieder zurück, wechselt Orte, zieht mit Liyun und Yaojun in den Süden, in eine gottverlassene Ortschaft am Meer, wo die Zeit stehengeblieben zu sein scheint. Währenddessen im Norden: ökonomisches Wachstum, breite Straßen, neue Wohnobjekte, hinter einer Mao-Statue flackert mit allen Werbefarben eine „Victory Mall“. Die Wege der Figuren trennen sich und kommen durch zum Teil unvermittelte, erratisch gesetzte Schnitte wieder zusammen. In Bis dann, mein Sohn ist man sich beim Schauen hin und wieder nicht ganz sicher, wo und woran man gerade ist. Wang Xiaoshuai schält sein Familien- und Gesellschaftsdrama wie eine Zwiebel, kocht sie auf kleiner Flamme, lässt sich dabei Zeit.
Dingpoetik der Thermoskannen und Hefeklöße

Die Kulisse ist sorgsam ausgestattet: ein Arbeiterwohnheim mit einem vollgestellten Flur, dann leer und verlassen. Das Häuschen in Strandnähe, das zu allen Winden hin offen ist, davor die großen Fischernetze, an die Seite gekippte Boote, lauter altes Zeug, das lange nicht mehr im Gebrauch war. Eine stille, elaboriert-unaufdringliche Dingpoetik der Thermoskannen, des geschnippelten Gemüses und der Hefeklöße, der auf hoher Flamme zischenden Wokpfannen und bunt etikettierten Schnapsflaschen. Alles hier ist in sanfte, matte Farben getaucht, die Bilder von Bis dann, mein Sohn sind angenehm klar, die Inszenierung ist schlicht. Wie eine Umarmung, die eine Zuschauerin fest an sich hält, ohne allzu aufdringlich und sentimental zu werden. Diese Contenance, diese Selbstbeherrschtheit ist das Schöne an dem Film.
Am Schluss kommen alle wieder zusammen, ein Kind ist geboren, eine neue Generation. Im Wohnzimmer läuft der Fernseher, ein langersehnter Telefonanruf, eine Skype-Verbindung: „How do you do?“ Sich selbst und einander verzeihen, das muss möglich sein. Bis dann, mein Sohn hat nach langem Suchen ein richtiges Ende gefunden.
Der Film steht bis 18.10.2022 in der Arte-Mediathek.
Neue Kritiken

A House of Dynamite

Amrum

A Letter to David

Wenn du Angst hast nimmst du dein Herz in den Mund und lächelst
Trailer zu „Bis dann, mein Sohn“



Trailer ansehen (3)
Bilder




zur Galerie (9 Bilder)
Neue Trailer
Kommentare
Es gibt bisher noch keine Kommentare.