Sister My Sister – Kritik

Nancy Meckler erzählt von einem realen Mordfall um zwei Schwestern und ihre Dienstherrinnen als inzestuöses Eifersuchtsdrama. Der Salzgeber Club zeigt Sister My Sister (1994) in einer neu restaurierten Fassung als Deutschlandpremiere.

„Langsamer“, weist Léa (Jodhi May) genüsslich ihre Schwester Christine (Joely Richardson) an, als diese ihr eine Geschichte erzählt, „du erzählst zu schnell!“ Die Geschichte hat Christine Léa schon Hunderte Male erzählt, die Freude steht ihr ins Gesicht geschrieben. Es ist nicht die Freude über die Auflösung, die Freude darüber, dem Höhepunkt der Geschichte näherzukommen; es ist die Freude über den Akt des Erzählens, den Léa so gern in die Länge ziehen möchte, es ist das liebevolle In-Erinnerung-Rufen der Umstände, das detailgespickte Aufspannen einer anderen Welt, das einen für kurze Zeit aus der hiesigen reißt.

Das langsame Erzählen

Wer Nancy Mecklers Sister My Sister von 1994 schaut, weiß vermutlich schon vor Filmbeginn um die Transgression, die der Film vor sich herträgt: Inzest und Mord. Der reale Kriminalfall, der hier als Vorlage dient, liefert allerdings mit Gewissheit nur letzteren: 1933 ermorden die Schwestern Papin, die in einer Kleinstadt in Frankreich als Bedienstete arbeiten, die Hausherrin und ihre erwachsene Tochter; das Motiv ist bis heute unklar. In Sister My Sister ist das blutige Ende nicht das, worauf der Film mit steigender Spannung zusteuert, sondern ein Rätsel, das jede Szene durchtränkt: Warum wird es dazu kommen? Ist das, was kommen wird, hier in dem, was zu sehen ist, schon angelegt? Es ist eine müßige Suche, denn Meckler weiß es auch nicht, will es nicht wissen; nicht die Auflösung treibt sie an, sondern das Erzählen, das langsame Erzählen.

Das doppelte Doppel

Der Film nimmt den Höhepunkt vorweg, indem er ihn an den Anfang setzt. Eine der ersten Szenen führt über eine langsame Kamerafahrt rückwärts die Treppe hinunter, von der Schlafkammer der Täterinnen zur Tat. Eine Tat, die vom ganzen Raum Besitz ergreift: Überall tropft, fließt und rinnt Blut, liegen Körperteile verstreut. Dann kommt ein langer, fast den ganzen Film einnehmender Flashback, der uns schließlich dorthin führt, wo wir schon waren. In der letzten Szene aber wird die Bewegung andersherum durchgeführt, gehen wir die Treppe hoch, von der Tat zu den Täterinnen. Diese doppelte Bewegung ist maßgeblich für den Film, denn sein Prinzip ist die Spiegelung.

Das wird zum einen in der Wahl der Schauspieler und der Räumlichkeiten deutlich. Meckler reduziert den Cast auf vier Personen, zwei blutsverwandte Paare: auf der einen Seite die Schwestern, auf der anderen Mutter und Tochter. Beide haben ihre Räume: Léa und Christine wohnen in einer Kammer im oberen Stockwerk, Madame Danzard und Isabelle im Erdgeschoss. Damit wird das Klassenverhältnis räumlich auf den Kopf gestellt, denn Mutter und Tochter geben geizige Bourgeois – Madame Danzard ist ganz entzückt davon, dass sich die Schwestern ein Zimmer teilen möchten –, während Léa und Christine den wöchentlichen Lohn als Hausangestellte für ein fernes Leben in Freiheit sparen.

Beide Paare sind aufeinander fixiert, haben nur einander (eine Isolation, die, so könnte man den Film lesen, dazu führt, dass Léas und Christines sexuelles Interesse sich auf die jeweils andere Schwester richtet) und weisen ähnliche Machtdynamiken auf: Madame Danzard erdrückt Isabelle in ihrer Selbstzentriertheit – bezeichnend ist etwa die Szene, in der sie die Kerze auf Isabelles Geburtstagskuchen selbst auspustet –, während die eifersüchtige Christine Léa radikal von der Außenwelt abschirmen möchte, um sie ganz für sich zu beanspruchen (worin Léa freilich einwilligt). Auch der Schnitt hat es auf das doppelte Doppel abgesehen: Als etwa Madame Danzard und Isabelle Karten spielen und das Spiel an Fahrt gewinnt, gibt es einen Schnitt zu Christine und Léa, die gerade übereinander herfallen und deren Liebesspiel ebenfalls ins Crescendo geht.

Klassenmord

Die Vorliebe des Films für Spiegelungen passt zu einer Deutung des Mordes als Klassenkampf: die plötzliche, mörderische Entladung von Gewalt als Pendant zur langwährenden, alles durchtränkenden symbolischen Gewalt der Wohlhabenden über Christine und Léa, das Runter und Hoch auf der Treppe als die symbolische Überschreitung der Standesgrenzen. Meckler verdichtet das Machtgefälle in eindrucksvollen Miniaturen, etwa in der Szene, in der Léa angsterstarrt Perlen aufliest, die der Tochter aus den Händen gerutscht sind. Madames Danzard Fuß steht im Weg, aber es widerstrebt ihr, sich zu rühren. In einer Großaufnahme sehen wir, wie sich Léas zitternde Finger mit äußerster Vorsicht zum Auflesen der Perlen an den Schuh von Madame Danzard herantasten: hier die stolze, lederne Standfestigkeit, dort die nackte Haut.

Meckler lässt keinen Zweifel daran, dass sie auf Christines und Léas Seite ist, und schenkt ihnen die Schönheit: Während Madame Danzards Gesicht von unten gefilmt zur Fratze verkommt und Isabelle ein schmollendes Babyface mit Topffrisur abgibt, werden Christine und Léa als zwei Grazien abgebildet, ihr Liebesspiel erlangt etwas Natürliches, nicht Infragezustellendes: Das Schöne gehört eben zusammen.

Ihre Anmut enthebt sie der Welt, die wir sehen, und schafft damit Raum für etwas, das sich einer gesellschaftlichen Verortung entzieht. Meckler, so scheint es, möchte alle Hypothesen offen lassen, möchte Christine und Léa unterdrückt wissen, ihnen aber so viel Persönlichkeit zusprechen, andere Motive gehabt zu haben: vom dämonischen Schwesternpaar („Wir sind in Blut vereint“, heißt es, freilich mit anderer Bedeutung, in der Geschichte, die Christine anfangs Léa erzählt) hin zum Eifersuchtsdrama.

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