Sirat – Kritik

Endzeit-Roadmovie mit verwegenen Laiendarstellern: Nach einem vom Militär gestürmten Rave in der marokkanischen Wüste schöpft Oliver Laxes Sirāt sein Sprengpotenzial als abstrahiert-metaphysische Grenzerfahrung voll aus.

Fühlt sich so das Ende der Welt an? In Sirāt von Oliver Laxe wird die Frage zu einem Zeitpunkt gestellt, an dem sie eigentlich nur noch rhetorisch gemeint sein kann. Sie bleibt deswegen auch unbeantwortet. Vielmehr fragt der Film: Was kommt danach? In der islamischen Mythologie, so klärt eine Texttafel zu Beginn auf, bezeichnet das arabische Wort „Sirāt“ die haardünne Brücke ins Paradies: ein Schwellenpfad über den Höllengrund. Die eschatologische Stoßrichtung ist den Bildern und vor allem den Tönen des Films von Beginn an eingeschrieben.

Laxe verortet die Endzeit in der Wüste, fernab vom sogenannten zivilisierten Leben. Sirāt eröffnet mit staubigen Nahaufnahmen von geübten Handgriffen. Sonnenverbrannte, verschwitzte Männerarme hieven Lautsprecherboxen durchs Geröll und errichten nach und nach ein massives, quaderförmiges Soundsystem, das so ins Bild gesetzt wird, als wäre es die Kaaba in Mekka. Die pilgernde Menge in Sirāt hat sich zwar aufs Tanzen verlegt, aber es ist – bei aller Besinnungslosigkeit – ein konzentriertes Tanzen mit Tendenz zur Transzendenz. Unter gewissen Umständen sind Tanzen und Beten das Gleiche.

Vibrierende Trance, versehrte Körper in Bewegung

Die felsige Wüstenkulisse bietet nicht nur den idealen Resonanzkörper für basslastige Rhythmen, sondern dient auch als Zufluchts(nicht)ort für das hedonistisch veranlagte Raver-Personal, das sich hier versammelt hat. Alternative Lebensentwürfe abseits der Norm; äußerlich gleicht man sich darin, dass man herauszustechen versucht, was in der Summe auf Mad Max-Cosplay hinausläuft. Zu den Opening Credits isoliert die Kamera einzelne Figuren auf der Tanzfläche. Eine Exposition im buchstäblichen Sinn: Laxe stellt keine Figuren und ihre Motivationen vor, sondern vom Leben gezeichnete Körper und Gesichter. Bigui (Richard Bellamy) fehlt ein Arm, Tonin (Tonin Janvier) ein Bein. Die anderen der Gruppe – Stef (Stefania Gadda), Josh (Joshua L. Henderson) und Jade (Jade Oukid) – umweht zumindest ein Hauch von Versehrung. Ihre Körper sind Beleg einer randständigen Existenz, Subkultur mit (weitläufig tätowierter) Haut und Haar. Ihr witterungsgegerbtes Äußeres lässt außerdem vermuten, dass sie nicht zum ersten Mal in der Wüste sind.

In diese vibrierende Trance verirren sich Luis (Sergi López, der einzige gelernte Schauspieler) und sein Sohn Esteban (Bruno Núñez). Sie vermuten Mar – die seit fünf Monaten verschollene Tochter und Schwester – unter den Feiernden und bringen damit die Erzählung buchstäblich ins Rollen. Als plötzlich das Militär aufschlägt, um die Teilnehmer*innen des illegalen Raves zu evakuieren, brechen einige Trucks aus dem Pulk aus und flüchten querfeldein. Nach kurzem Zögern schließen sich Vater und Sohn in ihrem kaum geländetauglichen Van an, weil sie gehört haben, dass in der Nähe ein weiterer Rave stattfinden soll, wo sie Mar wiederfinden könnten.

Abenteuerliche Schicksalsgemeinschaft mit Hund und LSD

Sirāt wandelt sich vorübergehend zum Roadmovie mit Abenteuerelementen und Anklängen an Henri-Georges Clouzots Lohn der Angst oder William Friedkins Sorcerer. Der treibende Rhythmus der Musik (Kangding Ray) unterstützt die rumpelige Odyssee durch die Wüste. Es gibt genretypische Hindernisse zu überwinden: Treibstoffbeschaffung, ein blockierter Reifen, ein Flüsschen. Dass Familienhund Pippa fast an LSD-haltigem Kot verendet (mutmaßlich die Hinterlassenschaft eines nomadisierenden Ravers), gehört noch zu den vergnüglicheren Problemen. Mit der Zeit vertraut und hilft man sich gegenseitig. Jade flicht Esteban halbseitige Zöpfe, die ihm eine verwegene Aura verleihen. Über Strecken ist Sirāt sogar ein Familienfilm: Vater und Sohn versuchen den Verlust der Tochter durch Zärtlichkeit zu kompensieren. Die busreisenden Raver haben ihrerseits familienähnliche Bande geknüpft.

Angesichts der spärlichen narrativen Mittel ist es erstaunlich, wie es Laxe gelingt, dass einem die Figuren ans Herz wachsen oder zumindest nicht egal sind. Obwohl oder gerade weil sie nicht ausführlich erklären, wie sie ihr Bein verloren haben, wieso die Tochter abgehauen ist, warum sie sind, wie sie sind – akzeptiert man sie als Körper, die sich durch eine in den Abgrund schlitternde Welt bewegen. Vielleicht findet man sie „cool“, wie Esteban einmal anerkennend flüstert, als seine Gefährten bei voller Fahrt auf ihren Trucks herumturnen. Jedenfalls möchte man eher nicht, dass sie in den Abgrund stürzen oder Schlimmeres.

Jedes Sandkorn ein Steinschlag, jeder Windhauch ein Tornado

Oliver Laxe weiß das und bezieht einen Teil der Spannung aus geschickt eingestreuten Vorahnungen, etwa indem er etwas später als nötig von einem Bild zum nächsten schneidet und so mit der Erwartung spielt, als würde noch etwas geschehen. Die gestalterischen Absichten bleiben dabei angenehm instabil und entwinden sich immer wieder ihrem Genre-Korsett. Affizierende Action-Sequenzen aus purer Kinetik wechseln sich ab mit Passagen schwelgerischer Kontemplation. Ohnehin ist in der Landschaft eine urtümliche Gewalt gespeichert, die sich auf der unablässig wummernden Tonspur (jedes Sandkorn ein Steinschlag, jeder Windhauch ein Tornado) und in der fiebrigen 16mm-Körnung sensorisch verstärkt, bis sie sich irgendwann entladen muss.

Wenn es dann passiert, überrascht das nicht und schockiert trotzdem. Nun passiert natürlich nichts einfach so, im Kino schon gar nicht; es gibt einen Regisseur, der die Dinge geschehen lässt. In der zweiten Hälfte des Films interpretiert Laxe seine Rolle zunehmend sadistisch; genüsslich lässt er seine Figuren auf der Rasierklinge oder direkt ins Verderben reiten – und das Publikum, so es den Rhythmen des Films verfallen ist, gleich mit. Jede zart angetäuschte Psychologisierung kontert Laxe nun mit unerbittlicher Härte. Die ohnehin nicht gerade hoffnungsfrohe Ausgangssituation löst er – grausam wie spektakulär – in umfassende Verzweiflung auf, was vielleicht beim Zuschauen keinen Spaß macht, wohl aber eine perverse Lust am Untergang befriedigt (falls man dafür empfänglich ist).

Geopolitische Details

In jedem Fall hilft es, wenn man sich nicht zu sehr um geopolitische Details kümmert. Das Endzeitszenario, das Sirāt entwirft, ist nämlich einerseits sehr konkret verortet (in der marokkanischen Wüste, wo auch hauptsächlich gedreht wurde), andererseits ins Spirituelle abstrahiert (die Wüste soll nicht marokkanisch, sondern vor allem Projektionsfläche für die ganz großen Fragen sein). Aus dem Radio tönt es zudem von einem ominösen Dritten Weltkrieg. Das marokkanische Militär, das den Rave stürmt und später im Film schweres Geschütz durch die Wüste transportiert, ist noch der greifbarste Hinweis auf einen militärischen Konflikt.

„Im Süden, in der Nähe von Mauretanien“, wo der andere Rave in Sirāt stattfinden soll, schwelt ein solcher Konflikt schon seit Jahrzehnten. Dort liegt die Westsahara, ehemals spanische Kolonie und heute völkerrechtswidrig von Marokko besetzt. Dass Laxe diesen Zusammenhang nicht erwähnt, mag daran liegen, dass er vielleicht sonst nicht in Marokko, wo er selbst 12 Jahre gelebt hat, hätte drehen dürfen. Der mehrere tausend Kilometer lange, minenverseuchte Schutzwall, den das marokkanische Militär als Demarkationslinie gegen die Sahrauis, Bewohner*innen der Westsahara, errichtet hat, spielt gleichwohl eine zentrale Rolle in Sirāt. Wenn nicht als geopolitische, so doch als abstrahiert-metaphysische Grenzerfahrung. Und in dem Modus schöpft Sirāt sein Sprengpotenzial voll aus.

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