Sing Sing – Kritik
Die Kunst eröffnet in Greg Kwedars Sing Sing Möglichkeiten, die das Leben oftmals nicht bietet. Das Schauspiel kann, hofft dieser Film, einen Ausweg anbieten aus der Welt des Strafvollzugs, in der unmenschliche Bedingungen unmenschliche Handlungen gebären.

Die Dopplungen im Film Sing Sing, die sich schon im Titel offenbaren, der sich auf das Hochsicherheitsgefängnis mit demselben Namen in der Nähe von New York bezieht und gleichzeitig eine Anspielung auf das Performative des Theaters und des Musicals ist, sind vielfältig. Greg Kwedars Film fängt die Vorbereitung einiger Gefängnisinsassen auf ein neues Theaterstück im Zuge des RTA-Programms (Rehabilitation Through the Arts) ein. Das Rehabilitationsprogramm ermöglicht Inhaftierten, mit Hilfe eines Regisseurs ein Stück zu entwickeln, zu proben und schlussendlich vor einem Publikum aufzuführen.

Wenn es ums Theater geht, gerade im angelsächsischen Raum, geht es auch immer um Shakespeare, und so beginnt der Film mit dem Ende einer Aufführung von „A Midsummer Night‘s Dream“. Colman Domingo spielt den realen Strafgefangenen John Divine G Whitfield, der Lysander spielt. Die meisten anderen Mitglieder der Theatergruppe werden von ehemaligen Insassen gespielt, die alle auch tatsächlich am Theaterprogramm teilgenommen haben. Schauspieler spielen Schauspieler wie sie schauspielen und ehemalige Gefangene spielen sich selbst als Insassen, die wiederum schauspielen – der Film versteht, dass die Trennwand zwischen Realität und Fiktion nur eine scheinbare ist, vielmehr handelt es sich um eine durchlässige Schicht, welche reziproke Einflüsse erlaubt.
Zeigen was sein kann

Sing Sing dreht sich um die Bedeutungsdimensionen des (Schau-)Spiels – „all the world’s a stage, and all the men and women merely players“, um es mit Shakespeare zu sagen oder wie der Soziologe Erving Goffman in seinem gleichnamigen Buch schreibt: „Wir spielen alle Theater.“ Das neueste Mitglied der Theatergruppe, gespielt von Clarence Divine Eye Maclin, der eine fiktionalisierte Version seiner selbst spielt, möchte Rollen spielen, die er sich selbst aussucht und nicht welche, die ihm von der Gesellschaft aufgedrängt werden. Selbstbestimmung durch Kunst, während er im Mikrokosmos des Gefängnisses die Rolle des „Gangsters“ spielen muss. Es ist eine Rolle, die durch gesellschaftliche Strukturen naturalisiert wird. Sobald er entlassen wird, stehen die Chancen sehr hoch, dass er weiterhin die Rolle des „Gangsters“ spielen wird.

Hier offenbart sich das transgressive Element der Kunst: sie eröffnet einen Möglichkeitsraum, der solche Automatismen hinterfragt. Die Offenheit der Kunst – das erprobte Theaterstück „Breaking the Mummy’s Code“ handelt von Zeitreisen, dem alten Ägypten, Robin Hood, Piraten, Prinzessinnen, Gladiatoren und Freddy Kruger – kann die rigiden gesellschaftlichen Rollen aufbrechen, indem sie auf deren Konstruiertheit verweist. Divine Eye erkennt im Laufe des Films und mit Hilfe seiner Schauspielkollegen, allen voran Divine G, dass man Rollen annehmen und ablegen kann. In einer Szene probt Divine G mit Mike Mike (gespielt von Sean San José) sein Anhörungsverfahren, währenddessen sagt dieser: „Wir interessieren uns nicht dafür, was sie hätten sein können, sondern nur dafür, was sie sind!“ Die Aufgabe des Theaters und der Kunst generell ist es zu zeigen: was sein kann.
Obligatorisch grobkörnig

Ein Problem des Films liegt darin, dass er, vielleicht aus Unsicherheit, immer ein wenig zu viel macht. Die klischeehafte Sundance-Filmästhetik mit obligatorisch grobkörnigem und verwackeltem 16mm-Handkamera-Bild, welches noch dazu in beinahe jeder Szene mit pathetischer Streichermusik unterlegt ist, führt zum gewünschten emotionalen Effekt, der jedoch einen fahlen Beigeschmack enthält. Colman Domingos Darstellung ist in gewisser Weise ebenfalls zu viel. Die überwältigende Performance sticht in ihrer Professionalität gegenüber den anderen heraus. Sie ist im Vergleich zu abgerundet, „zu viel Schauspielschule“. Die Professionalität Domingos wirkt wie ein Schutzwall, hinter dem seine Performance etwas Formelhaftes erhält. Die anderen Darsteller, allen voran Divine Eye, vermitteln eine berührende Wut und Verletzlichkeit, die auch auf die unmenschlichen Bedingungen im Gefängnis verweisen. Als Divine G mit Divine Eye allein sprechen will und ihn dafür in einer abgelegene Ecke aufsucht, ist Divine Eye auf alles vorbereitet und hat ein Messer eingesteckt. Während der Proben, als Divine Eye einen Monolog vorträgt und ein anderer Schauspieler hinter seinem Rücken vorbeigeht, wird er aus Angst vor einem Angriff aus dem Hinterhalt wütend. Die sozialen Strukturen des Gefängnisses werden zu natürlichen Reflexen – die unmenschlichen Bedingungen gebären unmenschliche Handlungen.

Am Ende steht die Frage, was Theater in der realen Welt leisten kann. Rollen können leichter verändert werden als Strukturen. Andererseits liegt die durchschnittliche Rückfälligkeit bei ehemaligen Gefangenen in den USA bei 60%, bei Teilnehmern des RTA-Programms hingegen bei unter 3%. ZynikerInnen mögen das als eine Korrelation abtun, die nicht auf Kausalität verweist. Für Sing Sing jedenfalls liegt in der Kunst bei aller Limitierung die Möglichkeit der Errettung; und das möchte man dem Film gerne glauben.
Neue Kritiken

Nuestra Tierra

While The Green Grass Grows (Parts 1+6)

Copper

Kleine Dinge wie diese
Trailer zu „Sing Sing“

Trailer ansehen (1)
Bilder




zur Galerie (13 Bilder)
Neue Trailer
Kommentare
Es gibt bisher noch keine Kommentare.