Silent Mist – Kritik

Ein Dorf, drei Frauen, drei Männer, drei Vergewaltigungen. Zhang Miaoyans Krimi Silent Mist interessiert sich weniger für die Suche nach dem Täter als für die Geschlechterverhältnisse im chinesischen Dorfleben.

Der kopflose Körper einer Schülerin ruht reglos auf einem Stuhl. Wo der Kopf sich befindet, bleibt zunächst unklar – doch warum er vom Körper getrennt wurde, scheint eindeutig: Seit das Mädchen nachts in einer dunklen Gasse überfallen und von einem Unbekannten vergewaltigt wurde, irrt es mit leerem Blick durch das Dorf, schlägt mit Steinen auf Spiegel ein und übt an Wäscheleinen, wie sich Kopf und Körper entzweien lassen. Plötzlich aber rührt sich der Rumpf auf dem Stuhl, langsam beugt das Mädchen seinen Kopf nach oben, kippt ihn in den Nacken und starrt wie abwesend in den Himmel, als erwarte sie von dort oben Hilfe. Bei der vermeintlichen Enthauptung handelt es sich nur um eine clevere Illusion ganz ohne Special Effects, die gelingt, weil die Kamera hinter der Schauspielerin und knapp unter Schulterhöhe platziert ist, sodass der herabhängende Kopf unsichtbar bleibt.

Ob nun kopflos oder den Himmel anflehend: Beide Varianten lassen sich als Metaphern von Machtlosigkeit lesen. Und in der traditionellen Gesellschaft dieses namenlosen chinesischen Dorfes trifft diese Beschreibung auf alle drei Protagonistinnen zu: Die Köchin wird andauernd vom Dorfpatriarchen bedrängt, die Friseurstochter von ihrem Liebhaber verstoßen und von ihren Eltern gegen den eigenen Willen verheiratet, das Schulmädchen verstummt und verfällt dem Wahnsinn. Was die drei eint, ist ihre Opferschaft: Sie alle wurden vergewaltigt – in der Gasse, auf dem Boot oder zu Hause. Nach diesen Tatorten sind die drei Kapitel des Films benannt. In zwei Fällen bleibt der Täter unerkannt. Ist es der schmierige Dorfvorsteher, der akustisch omnipräsente Wandermusiker oder der untersetzte Voyeur, der Damenslips von der Wäscheleine klaut und daran schnuppert? Und ist einer von ihnen zugleich der geheimnisvolle Paddler, den wir nie zu Gesicht bekommen?

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Zhang Miaoyans Silent Mist beginnt als düsterer Krimi. Minutenlang gleitet die Kamera im point-of-view-Modus am nebelverhangenen Flussufer entlang, richtet sich zunächst auf eine Frau, die in der Abenddämmerung allein nach Hause geht, entscheidet sich dann für eine jüngere, um kurz darauf von zwei Schülerinnen abgelenkt zu werden und einem davon nachzuspüren, ehe der unsichtbare Täter auf einer Brücke stehen bleibt, dem Mädchen hinterher sieht, uns mit seinem Verharren irritiert und über seine Intentionen im Unklaren lässt.

Mindestens einen der drei infrage kommenden Männer setzt der Film geschickt als Ablenkungsmanöver ein. Mit der Zeit rückt die Auflösung des Whodunit allerdings immer mehr in den Hintergrund. Stattdessen zeigt Zhang in langen, geduldigen Einstellungen, was die Gewalttat mit den Frauen anrichtet und welche Abhängigkeit zwischen ihnen und diversen Männern besteht. Mag sein, dass der Regisseur zugleich die weit verbreitete moralische Korruption von Lokalpolitikern andeutet, wenn der Dorfvorsteher seine Machtposition missbraucht, um eigene Verbrechen zu decken. Doch diese Ebene spielt, anders als noch in Black Blood (2011) – der demonstriert, wie die verarmte und vergessene Landbevölkerung jenseits der boomenden Ostküste Leib und Leben verkaufen muss, um für den Nachwuchs zu sorgen –, hier eine kleinere Rolle.

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Was Silent Mist dann aber mit Zhangs vorherigen Werken verbindet, ist das Stochern im abendlichen und gesellschaftlichen Dunkel. Mit Ausnahme einer Gebetsszene, die von einer gelben Wand eingerahmt wird, bleibt die Palette des Films oft entsättigt, mitunter gar monochrom: Das Wasser, der Nebel, die Häuser, die umherhuschenden Schatten – alles ist grau. Viele Szenen spielen in der Dämmerung, der Nacht oder in schummrigen Innenräumen. Worte fallen nur wenige, Stille liegt über dem Dorf. Selbst der Akt der Vergewaltigung wirkt täuschend undramatisch. Es ist dann ausgerechnet jene farbige, unruhige, auffällig lange Gebetsszene, die den Rhythmus des Films unterläuft. Von da an gerät Silent Mist etwas langatmig und bemüht mysteriös, ehe er sein stilistisches Understatement mit einem pathosbeladenen Lied wieder konterkariert.

Doch selbst wenn das Narrativ des Films nicht ganz überzeugen mag: Zhangs Darstellung des vom Patriarchat geprägten Landlebens bleibt hängen. Gegen Ende sehen wir Hochzeitsvorbereitungen. Alle Gäste bestaunen lauthals die Schönheit der Braut – und reduzieren sie zugleich darauf. Die junge Frau blickt an diesem „schönsten Tag des Lebens“ apathisch ins Leere, muss sich ihrer Unterwerfung fügen, während die Macht schlicht von ihren Eltern auf ihren Ehemann übergeht. Niemand käme hier auf die Idee, nach ihrem Willen zu fragen. Und einen Ausweg scheint es nicht zu geben: Die Kamera verlässt das Dorf nie, als sei es ein endloser Ort der Gefangenschaft. Auffällig ist, dass der Film nicht verrät, wer der Bräutigam ist. Vielleicht spielt es keine Rolle – Hauptsache, die Tochter ist unter der Haube (und die von ihrer vorehelichen Schwangerschaft beschmutzte Familienehre gerettet). Vielleicht aber ist ihr künftiger Mann auch ihr Vergewaltiger.

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