Shoplifters - Familienbande – Kritik
Schräge Familienaufstellung unter unsichtbarem Feuerwerk. Hirokazu Koreeda krakelt in Shoplifters mal wieder am japanischen Familienkonzept herum. So radikal wie vorher noch nie.

Aufgrund des Gewitters wird das Feuerwerk zwar kaum zu sehen sein, aber man kann es ja mal versuchen, also alle raus auf die Veranda. Es ist kein großes Haus, in dem die Familie wohnt, die in Hirokazu Koreedas Shoplifters im Zentrum steht, ein bescheidenes Heim, wie man es aus vielen anderen japanischen Filmen kennt und wie wir es jetzt von oben sehen, weil dieser Film mal eben selbst in den Himmel gestiegen ist, herabsieht auf die Familienmitglieder, die sich nun nebeneinander auf der Veranda platzieren, damit alle, vielleicht ja doch irgendwie, das Feuerwerk sehen können. Ein Haus von oben, im Dunkeln, nur eine helle, diagonale Linie durchzieht dieses Bild, eine Lücke tut sich auf in der geschlossenen Architektur: Sechs Menschen sind nach draußen getreten, suchen da unten ihren Platz am Geländer, um dann fragend zu uns nach oben zu blicken. Eine ziemlich schräge Familienaufstellung.
Fahndung nach Blutsbanden

Genau darum geht es Hirokazu Koreeda auch in Shoplifters: den konventionellen Familienbegriff aufzusprengen, neue Funkenassoziationen zu finden, Licht und Luft hineinzulassen in die hermetisch geschlossene Architektur des japanischen Heims. Dass Familie Shibata keine ganz gewöhnliche ist, das ahnt man früh, auch wenn man noch lange verzweifelt nach tatsächlich Blutsbanden fahndet: Da gibt es auf jeden Fall eine Oma (Koreeda-Routinier Kirin Kiki), da gibt es auch ein Ehepaar – Osamu (Lily Franky) und Nobuyo (Sakura Ando), er arbeitet auf dem Bau, sie in einer Wäscherei –, da gibt es die jüngere Aki, die sich vor Glasscheiben für andere Männer auszieht, die sie selbst nicht sehen kann. Und schließlich gibt es da den die Schlussphase der Vorpubertät genießenden Shota, der zusammen mit Vaterfigur Osamu immer wieder auf ausgewiefte Beutezüge geht, gekonnt in größeren Supermärkten wie kleineren Läden allerlei mitgehen lässt. Aber ist hier wirklich jemand mit jemandem verwandt? So sitzen wir ein bisschen verdattert im Wohnzimmer herum, wie das kleine Mädchen Juri (Miyu Sasaki), nachdem es eines Abends im Regen gefunden wird, allein und traurig; wo sie wohnt, will die Kleine lieber nicht sagen, die Narben auf ihrem Arm verbieten ein Insistieren.
Ökonomie und Familie

Yuri wird zwar irgendwann vermisst, kommt sogar ins Fernsehen, aber Shoplifters interessiert sich für die Entführung ohne Lösegeld nicht als kriminellen Akt, sondern als Arbeitsdefinition von Familie. Immer wieder geht es in Shoplifters um eine Gegenüberstellung von ökonomischer und familiärer Logik: Vater und Sohn klauen Lebensmittel, die Oma besucht regelmäßig die Familie ihres verstorbenen Ex-Manns, die ihr aus schlechtem Gewissen Geld gibt, und alle gehen sie arbeiten, um die Familie am Leben zu erhalten. Erhaltenswert aber ist sie freilich nur, weil sie allein sich gegenüber dem Ökonomischen behaupten kann, keinen Gegenwert will. Einmal erlaubt Sexarbeiterin Aki einem Kunden, auch weil sie ihn ganz hübsch findet, echte körperliche Nähe, geht auf die andere Seite der Scheibe, streichelt seinen Kopf in ihrem Schoß. Als ein nerviges Piepen den beiden erklärt, dass die bezahlte Zeit rum ist, springt der Kunde hektisch auf, aber Aki ist noch längst nicht fertig mit diesem schüchternen Mann, der im Sinne Koreedas nun vielleicht auch Teil der Familie ist, das begrenzte Reich des Ökonomischen verlassen hat; auch er wird entführt ohne Lösegeld. Kein Wunder also, dass die kleine Yuri bleiben darf, obwohl sie die Einzige ist, die zum Familieneinkommen nichts beitragen kann. „Wir brauchen sie nicht beim Klauen“, protestiert Shota einmal, weil er noch nicht verstanden hat, dass man eine Schwester nicht zu brauchen hat.
Naives Kinderbild

Nach den auf sich allein gestellten Kindern aus Nobody Knows (2004), den Scheidungskindern in I Wish (2011), den nach der Geburt verwechselten Kindern aus Like Father, Like Son (2013) und den Halbschwestern aus Unsere kleine Schwester (2015) ist Shoplifters Koreedas vielleicht radikalster Neuentwurf der Familie, und auch eine sozialkritische Ebene bricht sich hier wieder stärker Bahn als in seinen letzten, eher auf das Persönliche abzielenden Filmen. Denn wie einst der im Kern utopische Ausnahmezustand von Nobody Knows muss auch dieses Familienexperiment irgendwann enden, fragt irgendwann ein Staat dann doch mal nach, in welchem Verhältnis Koreedas Figuren denn nun genau zueinander stehen. Die kleine Yuri ein Bild vom gemeinsamen Strandausflug malen zu lassen, wie es wohlmeinende Psychologen vom Jugendamt bald tun, wird diesem Staat allerdings wenig nutzen: Im Gekrakel des kleinen Mädchens – ein paar lustig grinsende Strichmenschlein, strahlende Sonne und blaues Meer – sind Blutsbande schließlich kaum feststellbar, ist Familie nichts Beweisbares, sondern eben ein gemeinsamer Tag am Strand. Das Feuerwerk, das naive Kinderbild, sie fassen gemeinsam diesen Film zusammen, der das Familienbild sprengt, um ein neues zu krakeln.
Neue Kritiken

Leibniz – Chronik eines verschollenen Bildes

Kung Fu in Rome

Dangerous Animals

Versailles
Trailer zu „Shoplifters - Familienbande“




Trailer ansehen (4)
Bilder




zur Galerie (11 Bilder)
Neue Trailer
Kommentare
Es gibt bisher noch keine Kommentare.