Shikun – Kritik

Absurder Reigen und theaterpädagogische Übung: Amos Gitai zwängt in Shikun die israelische Gesellschaft in einen Wohnblock inmitten der Negev-Wüste. Essayistische Offenheit und thematische Buzzwords geraten dabei in einen ständigen Konflikt.

Das absurde Theater, das in den 50er Jahren in Frankreich populär wurde, verfolgt die Absicht, die Sinnfreiheit der Welt und die Orientierungslosigkeit der Menschen darzustellen. Die Szenarien sind surreal und opak: Zwei Männer unter einem toten Baum, zwei Männer in einem leeren Raum, ein alterndes Ehepaar auf einem verrottenden Turm. Stücke wie “Warten auf Godot” (Männer plus Baum) haben mittlerweile einen ikonischen Charakter. Der israelische Regisseur Amos Gitai blickt in seinem neuen Film Shikun mit jenem Reflex auf einen absurden Theatertext, den vermutlich auch ein Großteil des Publikums einnehmen würde: Er bemüht sich, das Chaos zu entschlüsseln, Bedeutung zu finden, Bezüge herzustellen.

Als Vorlage wählt er einen der bedeutendsten Texte dieser literarischen Strömung, nämlich Die Nashörner von Eugène Ionesco: In einer verschlafenen Stadt verwandeln sich dort die Einwohner*innen allmählich in rasende Rhinozerosse. Während viele die Katastrophe ignorieren, lassen sich Andere freiwillig verwandeln, um zur Mehrheit zu gehören. Shikun ist jedoch keine Adaption von, sondern eher eine Meditation über das bekannte Theaterstück. In einem losen Reigen aus Musik, Performance, Gesprächen und Monologen bewegt sich der Film durch einen alten Sozialwohnungsbau in der israelischen Stadt Be’er Sheva. Wie in Gitais vorherigen Filmen geht es um einen kritischen Blick auf die sich wandelnde israelische Gesellschaft und um das Gefühl der Machtlosigkeit im Angesicht eines wachsenden Totalitarismus.

Nashörner in der Negev-Wüste

“Ich habe Angst, mich in jemand anderes zu verwandeln”, ruft eine namenlose Frau (Irène Jacob) wieder und wieder. In einem alten Lagerraum strauchelt sie zwischen Mülltüten und Sperrholz hin und her und kratzt sich am Körper, als würde sie ihre eigene Haut abstoßen. Es ist ein dramatischer Höhepunkt im ansonsten eher nachdenklichen Film. Jacob ist eine Art traumtänzerische Fremdenführerin, die das Publikum durch die Szenen führt.

Immer wieder taucht sie aus den Gängen auf und ab – so auch in einer über 25-minütigen Plansequenz, während der die Kamera schwebend in einem Laubengang des Hauses auf und ab fährt und an verschiedenen Personengruppen hängen bleibt; die grellen Halogenröhren bilden eine Barriere zwischen dem Schwarz der Nacht auf der linken Seite und der abblätternden Wandfarbe auf der rechten. Hier kommen drei Bauunternehmer um die Ecke, welche die nebenan liegende Baustelle begutachten und darüber diskutieren, ob die Synagoge nun in den Keller oder ins Dachgeschoss gehöre. Schwebend bewegt sich die Kamera zurück und beobachtet einen Integrations-Sprachkurs, in dem zwei ukrainische Geflüchtete willkommen geheißen werden. Doch der naturalistische Habitus kippt: Erneut löst sich die Kamera und begleitet nunmehr einen Kriegsveteranen, der hitzig mit sich selbst von einer Schlacht gegen die Sowjetmächte im Jahr 1945 spricht. Die Nashörner dienen eher als Zitat, wenn Jacob wieder auftaucht und vor den rasenden Dickhäutern auf den Straßen Be’er Shevas warnt oder eine Kostümbildnerin im Keller sich ein Horn an die Stirn bindet.

Israel in der Nussschale

Symbolstark ist auch die Wahl des Spielortes: Im Jahr 1948 etablierte die israelische Regierung kurz nach der Staatsgründung ein nationales Wohnungsprogramm. An verschiedenen Orten des Landes, wie hier in Be’er Sheva in der Negev-Wüste, wurden umfangreiche Wohnblocks, genannt Shikunim, errichtet, um jüdische Migrant*innen aufzunehmen. Junge, innovative Architekten arbeiteten in den 50er Jahren an diesen brutalistischen Monumenten des Neuanfangs. Doch heute, im Schatten der wachsenden Neubauten ringsum, verweisen die heruntergekommen Wohnblocks in erster Linie auf die kosmetischen und sozialen Veränderungen im Land.

Shikun ist nicht Gitais erster Anlauf, die israelische Gesellschaft auf einen einzelnen Ort herunterzudampfen. In seinem vorhergegangenen Spielfilm Laila in Haifa (2020) war es ein Nachtclub, in dem Menschen unterschiedlicher Herkunft und Geschlechts aufeinandertrafen - die israelische Gesellschaft in einer Nussschale. In Shikun wählt er einen ähnlichen, wenn auch experimentelleren Ansatz. Das Shikun repräsentiert Israel; seine Bewohner seine verschiedenen Demografien und Strömungen - die einzelnen Teile des Wohnblocks stehen jeweils für etwas Größeres.

Jede Szene reißt einen eigenen Themenkomplex an; die Darstellung einer ganzen Gesellschaft in all ihrer Offenheit und Komplexität gelingt in solch einem streng kuratierten Werk natürlich nur begrenzt. Jede Szenenauswahl bedeutet eine Vereinfachung, jede Benennung zieht eine Beschränkung mit sich. Tastet sich der Film vom Holocaust-Gedenken über religiösen Fundamentalismus bis zur Besatzung des Westjordanlandes vor, so besitzen die Szenen durchaus einen Buzzword-Charakter. Figuren treten auf - mal schlendernd, mal rennend - tragen ihre inhaltlichen Punkte vor und treten dann wieder beiseite. Das ist gerade im Zusammenspiel mit der Räumlichkeit des Ortes oft faszinierend, oftmals aber auch etwas behäbig.

Grenzübergreifende Identifikation

Bemerkenswert ist Shikun andererseits dadurch, dass er keine einfachen Schuldzuweisungen an bestimmte Personen oder Gruppen vornimmt. Zwar hat Gitai alleine das Drehbuch geschrieben, trotzdem besitzt der Film einen kollaborativen Charakter. Ähnlich einer theaterpädagogischen Stückentwicklung setzt Gitai seine Akteur*innen entsprechend ihrer Expertisen und Fähigkeiten ein. Hier wird miteinander gesprochen - der alte Mann mit der jungen Frau, ein Palästinenser mit seiner israelischen Geliebten. Halten Figuren einen Monolog, so schauen sie bis auf eine Ausnahme nicht in die Kamera, sondern an ihr vorbei. Shikun versteht sich nicht als Appell, sondern als eine Art innerer Monolog Gitais. Der eine direkte Blick in die Kamera ergibt sich, als Iréne Jacob Ionesco zitiert. “Ich habe Angst, mich in jemand anderes zu verwandeln” – unvermittelt steht hier wieder das Ich im Zentrum. Gitai repräsentiert in seinem Werk eine Gesellschaft, als dessen Mitglied er sich versteht.

Shikun war zum Zeitpunkt des blutigen Massakers durch die Hamas am 7. Oktober weitestgehend fertiggestellt. Damals las sich der Film vielleicht noch mehr als Reaktion auf Benjamin Netanyahus geplante Verfassungsreformen. Im Licht des Krieges in Gaza und des unsäglichen Leids der dortigen Zivilbevölkerung tritt Gitais Klage über die israelische Besatzungspolitik in Shikun nun stärker hervor. So zitieren zwei Personen im Film den Haaretz-Artikel “'I Was Just Following Orders': What Will You Tell Your Children?”.

Fragen ohne Antworten

Dass Shikun keine Antworten auf seine vielen Fragen formuliert, ist verständlich. Weil er aber in großen Teilen mit Zitaten und Erwähnungen arbeitet, wirkt er beizeiten wie ein bloßer Umriss des Nahost-Diskurses, wie er deutlich polemischer in Talkshows und Instagram-Stories geführt wird. Gitai arbeitet entgegen der Intention Ionescos, indem er Bedeutsamkeit in das Absurde injizieren möchte – und nimmt seinem Werk dadurch an Offenheit und Vieldeutigkeit. Es überträgt sich zwar ein Gefühl der Hilflosigkeit, doch darüber hinaus bleibt der Film weitgehend an der thematischen Oberfläche.

Gleichzeitig bleibt Shikun sehr zugänglich. In seiner essayistischen Form ist er wenig verkopft, sondern kommuniziert seine Inhalte sehr offen ans Publikum. Sprunghaft wie er ist, hält er – Film wie Regisseur – seine eigene Ratlosigkeit aus und bleibt sich selbst treu. Indem Gitai sich auf Ionesco bezieht, legt er außerdem offen, wie das Erstarken des Totalitarismus nicht als isoliertes, sondern als globales Phänomen verstanden werden muss. Er arbeitet dadurch auch der schädlichen Tendenz entgegen, das Nahost-Geschehen zu exotisieren und die israelische Zivilgesellschaft mit ihrem Establishment zu einem bedrohlichen Monolithen zu verschmelzen. Wenn nach dem Kinobesuch der Blick des Publikums auf die Nashörner in den eigenen Straßen fällt, war es der Versuch vielleicht schon wert.

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