Oslo-Stories: Sehnsucht – Kritik
Wenn zwei Freunde miteinander sprechen. Oslo-Stories: Sehnsucht widmet sich einem Gespräch, einem Vorfall und zeitgenössischer Männlichkeit – in der Mittelklasse, bei heterosexuellen Familienvätern, die nichts infrage stellen müssen, aber können.

Ein wiederkehrender Traum verunsichert einen Schornsteinfeger, David Bowie taucht darin auf und hat ihn angeschaut, als wäre er eine Frau. Das Begehren im Blick des Anderen berührt ihn, begleitet ihn, bringt etwas ins Wanken. Das ist nicht der Anfang eines späten Coming Outs für den Ehemann und Familienvater, sondern erstmal nur genau das: eine Verunsicherung, der er nachspürt, die körperliche Folgen zu haben scheint, denn seine Stimme, er singt im Chor, hört sich plötzlich anders an. Die Offenheit des namenlosen Geschäftsführers ist Programm in der dramatischen Komödie von Dag Johan Haugerud. Der schlichte Originaltitel von Oslo-Stories: Sehnsucht ist so zu lesen: Sex legt die Karten auf den Tisch, ganz ohne Provokation, aber auch ohne Umschweife.
Ein beharrlich ernstes Unterfangen

Zu Beginn und in kleinen Interludes sehen wir Oslo von oben: Die Schornsteinfeger erklimmen die Dächer, erschließen die Stadt auf besondere, pragmatische, bewusste Art. Die aufgeräumte, moderne Architektur und die offensichtliche Ordnung in den Mittelklasse-Leben der beiden Protagonisten, einem Angestellten und seinem Vorgesetzten, sind zentral für die Verschiebung, die Drama und Komik befeuern. In der Mittagspause erzählt der eine dem anderen von seinem Traum, der etwas in seiner so fest und unkompliziert geglaubten Sexualität infrage stellt. Und bald schon schiebt der andere hinterher, dass er am Vortag zum ersten Mal in seinem Leben Sex mit einem Mann hatte. Nicht weil er auf Männer steht oder sich solche Fragen schon mal gestellt hat, sondern weil das Begehren im Blick des Anderen ihn dazu animiert hat.
Zu den vielen Aspekten, die Sehnsucht so herausragend machen, gehören die Körper der beiden Männer, die im Verhältnis zu den Schauspielern, die das Kino üblicherweise bevölkern, absolut durchschnittlich sind: Sie sind weder besonders attraktiv noch unattraktiv, weder besonders sportlich noch unsportlich. Dieser Film ist keine Wunscherfüllung schwuler Fantasien, in denen auch einmal heterosexuelle Männer vorkommen können, die sich öffnen. Stattdessen ist es ein so beharrlich ernstes Unterfangen, der Normgesellschaft auf den Zahn zu fühlen, dass es schnell sehr lustig wird. Und das, obwohl die Normalisierungsbemühungen des Films auch ästhetisch übersetzt werden in eine Vermeidung von allzu naheliegenden Pointen.

Nach dem ersten Gespräch der beiden Kollegen, die einander so sehr vertrauen, dass sie sich beinahe schutzlos begegnen, führt der Film in die Privatleben der beiden, die nach und nach von der Verunsicherung des einen und dem Erlebnis des anderen erfasst werden. Beide sind sie in enge, intime Gefüge verwoben, die die Kernfamilie für sie bedeutet. Dag Johan Haugerud wählt einen mitfühlenden, zugleich aber auch lakonisch-amüsierten Blick für die Situationen, die daraus entstehen. Der Mann mit den Träumen geht zu einem Stimmcoach, die seine Zunge inspiziert und ihm Stress attestiert. Der Mann, der den zwischenmännlichen Sex hatte, muss feststellen, dass seine radikale Ehrlichkeit bei seiner Frau nicht so gut ankommt. Wieso sollte das Fremdgehen sein, wenn er doch sofort alles erzählt?
Sehnsucht ist ungewöhnlich auch, weil sich in diesem Film alle verstehen und lieben. Weil Konflikte nicht grundlegende Missstände zutage bringen, sondern Chancen bergen, damit sich Menschen ihre gegenseitige Zuneigung einmal mehr und umso stärker beweisen. In einer schönen Szene, die für den Film ungewöhnlich pointenreich ist, sitzt der Mann mit den Träumen gemeinsam mit seinem Teenagersohn bei einer Ärztin. Dem Jungen schmerzt die Hand, der Mann hat trockene Haut. Die Ärztin hat nicht nur viel zu sagen und anscheinend unendlich viel Zeit, sie erzählt auch noch eine Anekdote, einfach so, als es im Gespräch über die Haut plötzlich um Tattoos geht. Sie will davor warnen und erzählt von einem schwulen Paar, das sich über eine bedeutungsschwere Tätowierung in die Haare kriegte. Und obwohl die Geschichte durchaus eine Lektion bietet, nimmt sie keine radikale Wendung, weil sich die Figuren dafür einfach zu gern mögen, sowohl die in der Erzählung als auch die, die zuhören. Denn Sehnsucht glaubt an emotionale und soziale Fähigkeiten der Menschen, auch von denen im Kino. Das ist so ungewöhnlich wie bezaubernd, zärtlich und aufmerksam.
Der Text ist ursprünglich am 22.02.2024 erschienen.
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