Sebastian springt über Geländer – Kritik
MUBI: Triptychon einer Gesellschaft als Urteil. Sebastian springt über Geländer handelt von den Träumen eines Kindes und des Films – die einen sollten wahr werden können, die anderen werden es wohl nie.

In Sebastians Kinderaugen leuchtet das Feuerwerk, als er an Silvester um Mitternacht in den Armen seiner schlafenden Mutter aufwacht. Immer näher geht die Kamera heran, immer größer werden das Gesicht und der bebrillte Blick auf das Spektakel am Himmel: aufsteigende Feuerwerkskörper, die dann in aller Ruhe explodieren, ausbrechen, sich ausdehnen, in ihrer schillernden Leuchtkraft den Raum einnehmen. Fast wie ausgedacht, wie eine kindliche Träumerei wirkt das in dieser Einstellung. Auf den Gegenschuss, der das Lichtspiel ganz real werden lässt, warten wir vergeblich.
„Gesellschaft als Urteil“

Hoch hinaus schießende, sich breit machende Träumereien haben in Sebastian springt über Geländer lange Zeit keine Aussicht darauf, Realität zu werden. In Ceylan Ataman-Checas Regiedebüt geht es stattdessen um ein Leben, das am Boden bleiben soll, das durch soziale Schranken eingeengt wird, ja um eine „Gesellschaft als Urteil“, wie der Soziologe Didier Eribon es genannt hatte. Schon zur Grundschulzeit wimmelt es in Sebastians Leben von solchen zum Scheitern verurteilten Plänen und Wünschen: Da ist die alte Frau Yildiz, um die sich seine alleinerziehende Mutter (Ambar de la Horra) als Altenpflegerin kümmert. Frau Yildiz erzählt von einem, der an Flugangst litt, trotz seiner „Hässlichkeit“ großer Schauspieler werden wollte, aber für eine Rolle fliegen sollte und dabei an einem Herzinfarkt verstarb. Und da sind Müllmänner im fortgeschrittenen Alter, die sich bei der Arbeit erzählen, sie wären lieber Piloten geworden – wegen der frühen Rente und, nicht zu vergessen, der Stewardessen. Vom erfolgreichen Fliegen, von den Kanarischen Inseln, von Strandbars mit Büffets und Hotels erzählen stattdessen andere Kinder, deren Eltern etwa Augenärzte sind. Auch Sebastians Wunsch ist es, einmal Pilot zu werden, doch als der Vater eines Schulfreundes zufällig eine Sehbehinderung bei ihm feststellt, scheint auch das nichts zu werden.

Ähnlich wie Barry Jenkins’ Moonlight (2017) baut Sebastian springt über Geländer aus der Klassenidentität seines Protagonisten ein filmisches Triptychon: Am Anfang Sebastian als Kind (Finn Freyer) in zu großer, aufgekrempelter Secondhand-Kleidung und im kalten, trostlosen Niemandsland Hannover. Am Ende Sebastian als junger Erwachsener (Joseph Peschko) im WG-warmen, kiezigen Berlin: Gerade hat er seinen Bundesfreiwilligendienst im Pflegeheim beendet, und die Kleidung ist immer noch secondhand, nur diesmal als hipper Oversized-Stil – und das wirkt dann weniger als Gentrifizierungskritik, sondern als ein Friedensschluss mit sich selbst. Dazwischen nämlich liegt das pubertäre Jugendalter mit allen Unsicherheiten, Hindernissen und Erniedrigungen, die die Klassenzugehörigkeit nur umso spürbarer machen, weil die Möglichkeit, daraus auszubrechen, erstmals in greifbarer Nähe scheint. Sebastian lernt Elisabeth (Frederieke Morgenroth) kennen und mit ihr auch eine bis dahin fremde, faszinierende Welt: eine helle, weite Wohnung mit großem Esstisch, traditionelle gemeinsame Opernbesuche, ja vielleicht sogar überhaupt eine intakte Familie. Aber auch wenn er es hier noch nicht so richtig merkt: Es liegen Welten zwischen ihm und Elisabeths Vater, für den die größte Frechheit des Kapitalismus eine Restaurantmahlzeit ist, die nur 7,21 € wert ist, aber für 24,90 € verkauft wird.
Ästhetische Flirtversuche

Es sind diese Szenen, in denen die ästhetischen Referenzen des Films am deutlichsten werden. Das thematische Feld der Familie und der lang gehaltene Blick aufs Alltägliche, aber auch die exakten 4:3-Kadrierungen einer Angela Schanelec und die uneitlen Überblendungen eines Christian Petzold: Sebastian springt über Geländer flirtet mit dem Stil der Berliner Schule. Doch bleibt er leider oft bei solchen Oberflächlichkeiten, ja vielleicht gibt es sogar Probleme beim Kennenlernen. „Es geht um Menschen, nicht um Rollenmodelle oder Metaphern …“, hatte Georg Seeßlen einmal über die Filme von Petzold, Schanelec, Arslan und Co. geschrieben. Gerade Sebastian scheint aber häufig mehr verbissenes Präsentationsmodell als menschliche Figur zu sein: ein Leben, eingedampft in drei Akte, in 70 Minuten, in einen engen Blick, der nur Platz hat für das eigene Argument und die passende Beweisführung. Und so guckt man häufig eher drauf, anstatt mit zu durchleben, versteht sofort, was die Figuren selbst vielleicht noch gar nicht verstehen können, und sieht das Leben eben nicht als Lebendigkeit, sondern als Aneinanderreihung von Zeugnissen klassistischer Diskriminierungen.
Künstlichkeit auf dem Boden der Realität

Handgreiflichkeiten mit dem Vater der ersten Freundin und auch die Geschichten von Frau Yildiz, den anderen Kindern und den Müllmännern kommen dann spürbar aus dem Drehbuch statt aus den Figuren selbst. Und doch verschwindet dabei die Sympathie für diesen Film nicht, bleibt selbst in dieser Artifizialität der Figuren noch ein Rest treffender Gefühle. Ataman-Checa ist sicherlich nicht Sebastian, und doch fühlt sich dieser Film wie ein Rückblick an, dem eine gewisse Ehrlichkeit innewohnt, der gar nicht versucht, vergangene Emotionen gegenwärtig werden zu lassen. Die eigene Geschichte muss aus der Gegenwart konstruiert werden, das ist ihr Dilemma, das spricht hier genauso aus der Künstlichkeit wie eine urteilende Gesellschaft. Das Vergangene noch einmal ganz neu heraufzubeschwören, noch einmal mit wirklich unwissenden Augen auf die Reiseerlebnisse anderer zu schauen, Geschichten einer alten Frau zu lauschen, die erst einmal auch nur Geschichten bleiben dürfen, oder sich noch unkritisch dem Geschwafel des Vaters der Jugendliebe hinzugeben, das sind in Sebastian springt über Geländer stattdessen auch nur vergebliche Träume, die nicht einmal durch einen Film Realität werden können.
Den Film kann man sich auf MUBI ansehen.
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Kommentare
Peter Stockhaus
Lieber Jonas,
gibt es gute Filmkritik? Anscheinend ja. Lange nicht mehr so eine präzise und produnde Werkannalyse gelesen. Chapeau!
Und, ich oute mich, ich bin der Verleiher des Films, der es ähnlich sieht, aber nicht in diese Worte hätte kleiden können.
Danke!
Peter
1 Kommentar