Schlaf – Kritik

In Michael Venus’ Debütfilm verlieren sich Mutter und Tochter in gleich mehreren Alptraum-Schichten. Die unheimliche Heimatgroteske Schlaf funktioniert wie ein Jenga-Turm: schraubt sich in luftige Höhen, verliert das Fundament – und macht dennoch Hoffnung für die hiesige Genrefilmlandschaft.

Eine Partie Jenga eröffnet Schlaf. Der Auftakt mit dem wackeligen Turm, dessen Fundament immer löchriger wird, je weiter er wächst, ist sehr klar gewählt. Mehrmals werden Marlene (Sandra Hüller) und ihre erwachsene Tochter Mona (Gro Swantje Kohlhof) aus ihren Alpträumen aufwachen, nur um nach gewisser Zeit feststellen zu müssen, dass sie sich nur im nächsten Alptraum befinden, aus dem es zu erwachen gilt.

Traumwelt und Wirklichkeit

Die Realität von Schlaf wird auch sonst umso brüchiger, je mehr sich die Perspektiven der beiden Protagonisten als wenig vertrauenswürdig herausstellen. Zuerst sind es punktuelle Dinge, die (möglicherweise) nur sie sehen, wie Bachen in Hotelzimmern, Ruinen im Wald oder Leichen von Selbstmördern in Speichern oder Hallenbädern. Mit der Zeit wird Schlaf seine Handlung aber großflächig ins Reich des Traumes verlegen. Wobei es sich wie mit dem Jenga-Turm am Anfang verhält, der irgendwann einfach schwebt: Je mehr sich die Traumwelt gleichberechtigt neben die Wirklichkeit stellt, umso solider wirkt sie.

Marlene ist Flugbegleiterin und wird von wiederkehrenden Alpträumen verfolgt, die mit Panikattacken und Atemnot enden. Teil dieser Heimsuchungen, die sie in Skizzen in dutzenden von Notizbüchern festhält, ist ein Hotel. Und genau dieses Hotel macht sie nun in der Wirklichkeit ausfindig. Denn: Wenn es das Haus gibt, muss es dort auch den Mann geben, der im Schlaf hinter ihr her ist. Doch schon die erste Nacht endet im Krankenhaus. Marlene erleidet auf ihrem Hotelzimmer ein schweres Trauma, das sie in Katalepsie versetzt. Als ihre Tochter anreist und im selben Hotel unterkommt, ist sie es nun, die von Träumen verfolgt wird; die aufwacht ohne sich daran zu erinnern, wie sie (bestenfalls) in ihr Bett kam; die Visionen hat und an ihrer geistigen Gesundheit zweifelt.

Heimatfilm in Schieflage

David Lynch und The Shining (1980) sind als Referenzen schnell auszumachen. Vor allem da der Handlungsort ein größtenteils leeres Hotel außerhalb der Saison ist und sich ein Grauen aus der Vergangenheit erhebt, das die Grenzen zwischen Halluzination und Realität verschiebt. Nur wird dieser Horror, der hier ein klein wenig hochtouriger angewendet wird, auf Tropen von Heimatfilmen und -serien gewendet. Auf der einen Seite: Freiheit, Mobilität, Identitätslosigkeit in Form einer Stewardess aus der Großstadt, die als Baby vor einem Krankenhaus abgelegt wurde. Auf der anderen: Vertrautheit, Idylle und Klaustrophobie in Form eines kleinen Dorfes im Wald, wo sich jeder kennt, wo alles durch ein soziales Erbe bestimmt ist und wo dann doch jeder mit jedem verwandt scheint.

Diese Dualität, die sich mit unterschiedlichen Ausprägungen in vielen Heimatfilmen findet, hat hier aber eine beträchtliche Schieflage, da Heimat und Erbe wie in einer Geschichte von H.P. Lovecraft verstanden werden. Das Unterbewusste der Einzelnen ist in Schlaf mit der Familiengeschichte und diese wiederum mit der Geschichte der Gesellschaft kurzgeschlossen. Schuld findet sich darin, und ein Entsetzen, dem nicht zu entkommen ist, weil es nicht von draußen kommt, sondern tief in einen eingeschrieben ist.

Naziführer Otto und die Wellnessanlage

Zu Beginn ist dies lediglich Subtext und Teil der sehr effektiven Versuche, einem den Boden unter den Füßen wegzuziehen – den Turm der Realität und des Vertrauten zum Einsturz zu bringen. Mit der Zeit wird Schlaf diesen Heimatbegriff aber deutlicher als Text ins Bewusstsein holen – in dem Maße, in dem versucht wird, an den Urgrund des Unbehagens und einer zerfallenden Normalität zu gelangen. Nicht nur Mona, auch der Film setzt jetzt alles daran, zur bedeutungsschweren Auflösung zu gelangen.

Aus dem Grauen eines psychologischen Wankens wird so allmählich eine makabre, unheimliche Heimatgroteske, in der vor allem August Schmölzer als Hotelbesitzer Otto brilliert: dessen Freundlichkeit immer etwas Bedrohliches hat, durch dessen Wahnsinn eine kindliche Freude strahlt, und in dem Perversion und moralische Enge eins werden. Das Hotel befindet sich im Umbau und soll Wellnessanlage und Tagungsort werden. Der heimatverbundene Macher Otto versucht, diese Zukunft zu seinen Konditionen im Heimatlichen einzufangen. Und weil Schlaf es sich nicht nehmen lässt, noch die offensichtlichste Assoziation auszusprechen und zum zentralen Moment zu machen, wird aus Otto irgendwann noch ein Naziführer. Womit Horrorfilm und Groteske dann noch clownesker Themenfilm und Fabel werden.

Jammern auf hohem Niveau

Schlaf gleicht so auch wieder dem Jenga-Turm des Beginns. Je weiter er sich in thematische Höhen schraubt, umso mehr zersetzt sich sein Fundament. Aus einem Film, dessen Kraft im Unbestimmten lag, im Aufladen beschaulicher Orte mit unsagbaren Abgründen und im Zerfließen der Sicherheit der Realität, wird mit der Identifikation der Problemlagen ein überladener, zusehends kraftloser Film, dessen Schrecken verpufft. Aus einer wirkungsvollen Atmosphäre ist ein Stück Kino geworden, das nur mehr in betriebsamen Handlungen ausagieren lässt, was sich alles zurechtgeschustert wurde.

Aber vielleicht ist das Jammern auf hohem Niveau. Denn lange Zeit ist Schlaf ein Film, der Hoffnung für die heimatliche Genrefilmlandschaft macht. Das Gefühl für Orte und Symbole – das Hotel als herrschaftliche „Burg“, die über einem Dorf thront, das im Film nur aus einem leeren Supermarkt besteht, sowie die Bache als triebgesteuerte Bedrohung und Racheengel alles Familiären – sind genauso toll wie die Freude am Schrecken (vor Lust und Trieben), der Genuss von Sinnlichkeit und feinem bis überspitztem Spaß. Es bleibt zu hoffen, dass Michael Venus nach diesem vielversprechenden Debüt noch weitere Chancen bekommt, sich auszuprobieren – und dann die Dinge vielleicht nicht mehr so willfährig und im Dienste der schweren Thematiken aus dem Ruder laufen lassen muss.

Der Film steht bis zum 02.05.2022 in der ZDF-Mediathek.

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