Die Purpursegel – Kritik

Die Purpursegel erzählt vom schwierigen Ankommen eines Kriegsheimkehrers in seinem französischen Heimatdorf. Die Symbolik, die Regisseur Pietro Marcello dafür findet, ist unverschämt nahe an der Romantik, die Bildsprache jedoch kompromisslos modern.

Die Purpursegel ist ein europäischer Film, oder auf jeden Fall ein Film, der die Idee eines transeuropäischen Kinos abseits (oder gerade wegen?) der nun gängigen Produktionsmechanismen und Filmförderfonds verinnerlicht hat. Ein russisches Märchen – Die Purpursegel von Alexander Grin –, inszeniert von einem italienischen Regisseur in Frankreich mit einem französischen Cast. Ich frage mich, ob Leute in New York oder Toronto sich in diesem Film finden. Ob Kino immer noch Grenzen hat.

Das Unausgesprochene wird zum Echo

Raphaël (Raphaël Thiéry) kehrt aus dem Krieg zurück. Sein linkes Bein lahm, das Gesicht zerfurcht von Grübchen, die Backen errötet und die Haare leicht zerrüttet. Tiefer darin vergraben funkeln Augen wie Smaragde: klein und blau, wach und suchend. Ein Mann wie ein Bär. Muskeln und Fett, kaum Nacken. Seine prägnanten Pratzen arbeiten dabei jedoch mit der Geschmeidigkeit einer Katze. Schreinerhände. Künstlerhände. Verschwendet am Gewehr und resozialisiert an der Werkbank. Er redet nicht viel, aber wenn, passt die Stimme nie zum Körper. Hell und sachte, liebevoll. Selbst wenn er schreit, verzerrt sie kaum.

Raphaël kehrt aus dem Krieg zurück, aber Marie ist tot. Sie war jünger als er. Jünger und schöner. Sie hinterlässt ihm mit Madame Adeline (Noémie Lvosky) eine ungewollte Schwiegermutter und eine kleine Tochter namens Juliette. Zusammen mit einem Schmied und einer Magd mit Kind bildet sich so auf Madame Adelines Gehöft eine neue Familie. Raphaël gliedert sich ein, versucht in dem Dorf anzukommen, findet vor allem Widerstand und Skepsis. Das Unausgesprochene wird zum Echo: Marie wurde im Winter vom Wirt vergewaltigt und übernachtete im Schock draußen. Sie starb kurz darauf an Unterkühlung.

Manche Strukturen können nicht geheilt werden

Ein Film für den Dorfkindkanon. Die sozialen Dynamiken, die Physiognomien, die Lokalitäten lösen in mir alle Erinnerungen aus. Meine Großmutter erzählte mir einmal von einem ähnlichen Fall in ihrem Heimatdorf, nur, dass das Mädchen überlebte. Dort blieb. Neu heiratete. Kuckuckskinder. Das Dorf vergibt sich selbst, stößt damit aber gleichzeitig all das Fremde ab, was an die eigene Schuld erinnert. Also hetzt man gegen Raphaël, beschimpft und verprügelt ihn. Manche Strukturen können nicht geheilt werden. Entweder man baut eine bessere, egalitärere Gesellschaft parallel dazu auf – der Hof von Madam Adeline, auf dem Jeanne D’Arc ihre letzten Tage verbrachte –, oder man wird hinfort getragen. Auf purpurnen Segeln, wie eine Magierin der nun erwachsenen Juliette (Juliette Jouan) prophezeit. Die Magierin scheint direkt aus dem KiKA-Sonntagsmärchen gecastet zu sein. Ein Gesicht ohne Kanten und voller Hoffnung.

Die Bilder, die Pietro Marcello dafür findet, sind unverschämt nahe an der Romantik. Juliette als Wassernymphe. Raphaël und sein Akkordeon auf dem spärlichen Friedhof, das Dorf im Hintergrund drohend erhoben. Die Bildsprache, mit der er diese Romantik umsetzt, ist jedoch kompromisslos modern. Alles ist auf 16 mm gedreht, aber handgeführt und mit ständigen Snap Zooms, um das Bild und den Blick zu dynamisieren. Wie eine Band, die weiß, dass sie einen Hook gefunden hat, wiederholt und wiederholt und wiederholt Marcello, wie sich Juliettes und Raphaëls Hände berühren und zueinanderfinden. Wie jeder guter Hook steigert die Repetition nur die Endorphine, übersättigt man sich gerne an dieser Schönheit.

Irgendwann crasht Louis Garrel in die Handlung

Viel wurde über Marcellos Arbeit mit den dokumentarischen Einschüben geschrieben, wenig darüber, wie sehr sie eigentlich am besten in ihrer Banalität funktioniert. Es sind nicht die szenensetzenden Aufnahmen der internen Migration während des Ersten Weltkrieges, die hier in Erinnerung bleiben. Es sind anonyme Aufnahmen von Paris oder fast belanglose Naturbilder, die er in die Erzählung verwebt. Affektive Annäherungen. Eine Sublimierung und Vertiefung in eine Vergangenheit, die so niemals existierte und gerade deswegen erzählbar wird.

Diese Spannung durchzieht den ganzen Film in all seinen Facetten. Während der Dreharbeiten fand Marcello ein Buch mit Versen, das die Grundlage für Juliettes Chansons bildet. Die Form eines Märchens unterliegt hier dem geschichtlichen Drang zur Industrialisierung. Raphaël verdient sich sein Geld, indem er Holzflugzeuge für einen Händler in der Stadt anfertigt. Doch mit den Jahren fallen diese mehr und mehr aus der Mode. Es muss elektronisch werden, und Juliette beäugt den Modellzug wie eine Monstrosität. Raphaël beginnt an einer Galionsfigur zu arbeiten, die er nach Marie modelliert. Irgendwann crasht Louis Garrel in die Handlung. Das Flugzeug ist abgestürzt. Die Liebe in ihrer Form und Stärke so radikal, wie sie nur im Märchen funktioniert. Ein Blick, und es ist Schicksal. Er geht, sie wartet. Er kommt wieder, sie küssen sich. Das Privileg des Abenteurers ist, dass er vergessen kann, lehrt Madame Adeline. Aber Marcellos Filme vergessen nie.

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