Saint Omer – Kritik

VoD: In ihrem ersten Spielfilm zeigt Alice Diop den Prozess gegen eine Kindermörderin und bleibt dabei ihrem dokumentarischen Drang treu. Saint Omer ist so schlicht wie vielschichtig – und hält unserer Gegenwart mitsamt ihrer True-Crime-Obsession einen Spiegel vor.

Da steht sie vor der Anklagebank, in hellbraunem Oberteil, vor dem frustrierend hellbraunem Holz des Gerichtssaals, hidden in plain sight: die Angeklagte Laurence Koly (Guslagie Malanda). Es geht in Alice Diops Saint Omer auch um den Wunsch, sich vom Hintergrund abzusetzen, und um alles, was dem im Wege steht. Die Hintergründe einer Straftat sind im Gerichtssaal auszuleuchten, und die geständige Angeklagte selbst sagt, sie wolle durch die Verhandlung herausfinden, warum sie getan hat, was sie getan hat, nämlich ihre kleine Tochter am Strand zurückgelassen, wo diese einen Tag später tot aufgefunden wurde. Doch die Wahrheit ist kein Fluchtpunkt in diesem Film.

Dokumente der Fiktion

Saint Omer ist die fiktionalisierte Fassung des realen Falls der Fabienne Kabou, der 2016 die Schlagzeilen des französischen Boulevards bestimmte. Alice Diop, die bislang mit preisgekrönten dokumentarischen Arbeiten auf sich aufmerksam gemacht hat – ihr letzter Film Nous hat 2021 die Encounters-Sektion der Berlinale gewonnen –, hat damals die Gerichtsverhandlung besucht und daraus ihr erstes Drehbuch für einen Spielfilm entwickelt, gemeinsam mit Editorin Amrita Davis und der Schriftstellerin Marie NDiaye. So ganz verlässt Diop das Feld des Dokumentarischen aber nicht: Die drei langen Gerichtsszenen, die dem Film eine gewisse Struktur geben und aus jeweils anderen Perspektiven in langen Einstellungen gedreht wurden, basieren weitestgehend auf den Transkript der echten Verhandlung; für den Dreh wurde der entsprechende Saal gemietet.

Saint Omer beginnt aber nicht mit diesem Prozess, sondern mit der Protagonistin des Films, der Dozentin und Autorin Rama (Kayije Kagame), die an einem Buchprojekt über die Tragödie der Medea arbeitet, für die sie den Fall der Kindesmörderin benutzen und deshalb dem Prozess beiwohnen möchte. Mit schnellen, präzisen Pinselstrichen zeichnet Diop diese Figur: An der Uni doziert Rama über Marguerite Duras, diskutiert mit den Studierenden über das Verhältnis von Gewalt und Kunst; beim Familienbesuch übertüncht ihr weißer Freund mit Small Talk die Spannungen innerhalb der senegalesisch-französischen Familie; und schon sitzt Rama im Zug nach Saint Omer, der Kleinstadt, die zum Tatort wurde.

Fortan sitzen wir mit Rama im Gerichtssaal und versuchen, schlau zu werden: aus diesem Fall, aus dieser Laurence, aus ihrer abgebrochenen Philosophie-Promotion, aus ihrem Verhältnis zu einem deutlich älteren weißen Mann, aus ihrer schwierigen Beziehung zur Mutter, schließlich aus diesem Tag, an dem sie ihr eigenes Kind am Meer zurückließ. Rama sitzt schweigend im Publikum, Privileg der Zuschauerin, während Laurence zum Sprechen gezwungen wird: auf dass geklärt werde, ob sie ganz bei Trost war, als sie ihr Kind zurückließ, oder tatsächlich „bewitched“, wie sie behauptet.

Menschen mit Hintergründen

Es ist ein Allgemeinplatz, nicht zuletzt des reflektierten Gerichtsfilms, dass es mit der Wahrheit und nichts als der Wahrheit so eine Sache ist. Auch Saint Omer staunt über die Übersetzung des Lebens in die vermeintlich objektive Sprache der Vernunft, darüber, wie jedes Indiz ja doch nur wieder zurück ins Dickicht des Lebens führt. Diop geht über diesen Allgemeinplatz hinaus, indem sie die Frage, die im Gerichtsraum steht – ob diese Laurence wirklich glaubt, was sie da sagt – auf das gesamte Figurenpersonal ausweitet.

Denn sie alle: die engagierte Verteidigerin, die am Ende zu einer einnehmenden feministischen Rede über Mutterschaft ausholt (man kann sie sich leicht als Protagonistin einer, man verzeihe diesen schlichtesten aller Seitenhiebe, Hollywood-Version des Stoffes vorstellen); der Staatsanwalt mit seiner kaum verhohlenen Verachtung für die Kindesmörderin; der Gutachter, der die Angeklagte wohl erst ermutigt hat, sich durchaus auf die spirituellen Traditionen ihrer Kultur zu berufen; die Professorin im Zeugenstand, die es irritiert, dass sich eine Frau afrikanischer Herkunft Wittgenstein zum Thema genommen hat und nicht jemanden, der „näher an ihrer Kultur“ ist: Sie alle bringen ihre eigenen Projektionen mit, sie alle erfüllen ihre Funktion im Gerichtssaal als gesellschaftlich situierte Personen mit einem unentwirrbaren Knäuel aus Überzeugungen und Strategien in der Hand, also als Menschen mit Hintergründen.

Alles nur mit eigenen Augen

Natürlich gilt das auch für Zuschauerin Rama, die bald erkennen muss, dass es kein Zugucken ohne Involvierung gibt. Wie die Angeklagte – und wie Diop – ist sie Teil der senegalesischen Diaspora, und so platzen bald Erinnerungen an ihre eigene Kindheit ins filmische Bild, Gedanken an das belastete Verhältnis zu ihrer Mutter, Gefühle für das noch nicht geborene Kind in ihrem Körper. Das Eigene wiegt auf einmal schwerer als das vermeintlich Andere, als die Suche nach der Wahrheit oder der Kunst. Erzählökonomie: Saint Omer braucht nur wenige Szenen außerhalb des Gerichtssaals, um das distanzsüchtige True-Crime-Genre ins Intime zu überführen.

Diese Verdopplung durch die Figur der Rama ist keine Meta-Spielerei, die man hätte weglassen können, kein Kniff, mit dem sich eine Regisseurin vom Voyeurismus-Vorwurf freispricht, eine reflexive Ebene in ihr Gerichtsdrama einbaut. Diese Verdopplung ist Kern von Saint Omers ethischem und politischem Programm: Es gibt keinen Blick, der nicht von irgendwo her kommt, es gibt keine Perspektive ohne Person, es gibt keinen Zuschauerraum. Denn was sagt ein gesprochener Satz aus, gerade im Gericht, wenn er immer Übersetzung einer nicht-sprachlichen Wirklichkeit ist; was zeigt ein Bild, das Gesicht einer Angeklagten etwa, von sich aus, wenn wir es doch immer nur mit den eigenen Augen sehen?

Dass Rama und Laurence Teil einer rassifizierten Minderheit in Frankreich sind, ist für dieses ethische und politische Programm zentral – das machen jene Szenen klar, in denen Laurence zugeschriebene kulturelle Eigenschaften sowohl für die Anklage als auch für die Verteidigung genutzt werden. Und doch ist dies nicht einfach ein Film über Rassismus. Scheint doch gerade in der sehr spezifischen Situation dieser beiden Figuren jene universelle Erkenntnis auf, dass das, was wir sehen und denken, eben mit unseren Hintergründen zu tun hat. Das Bild der Laurence ist für Rama ein Spiegelbild, aber in dieser Reflexion ist mehr zu sehen als das, was Rama sieht. Diop geht es um den spiegelnden, den reflexiven Charakter jedes Porträts, und damit eben auch um all diejenigen, die ein solches betrachten. Nicht umsonst hängt die Mona Lisa im Hintergrund von Saint Omer.

Lücken mit ganzen Welten

Dass sie uns auf uns selbst zurückwerfen, hat man über viele Filme gesagt, selten scheint mir diese Beschreibung so stimmig wie hier: Nicht nur wie wir es mit diesem Fall und der Wahrheit halten, auch zu welchen Anteilen uns Saint Omer als Film über Wahrheit und Sprache, über Weiblichkeit und Mutterschaft, über Migration und Rassismus, über das lange Nachleben des Kolonialismus oder über Familie und Erinnerung erscheint, hängt davon ab, als welche Person wir auf Laurence, auf Rama, auf diesen Film blicken. Ein Film, der Lücken lässt, nicht um zu verschleiern, sondern damit in ihm möglichst viel Welt Platz finden kann, diesseits wie jenseits der Leinwand.

Deshalb ist der Fluchtpunkt von Saint Omer nicht das Geständnis oder das Urteil, sondern der Moment, in dem Laurence’ Blick auf Rama fällt, und damit in die Kamera, auf uns; wenn auf dieser Blickachse all das Fassbare, das diesen beiden Frauen, die im gleichen Raum auf unterschiedlichen Seiten sitzen, gemein ist, und all das Unfassbare, das sie voneinander unterscheidet, zugleich Platz hat, und im gleichen Moment auch das Verhältnis zwischen Angeklagter und Zuschauer*in im Kino austariert wird. Kein Moment der Erkenntnis, der Versöhnung oder der Wahrheit, nur mehr ein Lächeln, eine Irritation, und dann eine Flucht, ein Absturz, ein Abgrund.

Schlicht und Vielschichtig

Hier wie überall in diesem Fall macht Diop aus unglaublich wenig unglaublich viel. Unter der Verkleidung des procedurals schmuggelt sie vielgestaltige Themen und Referenzen in ihren Film, ohne dass er je überfrachtet wirken würde. Saint Omer ist schlicht und vielschichtig, so transparent wie opak, minutiös konzentriert und offen für alles, dringt in gesellschaftliche Tiefenstrukturen vor und bleibt zugleich gänzlich intim, treibt in nachdenklicher Melancholie dahin und wird doch von einer inneren Spannung zusammengehalten, bringt Licht in die Verhältnisse, ohne jemals vollständig aufklären zu wollen.

Saint Omer ist ein ungemein fassbarer, greifbarer Film über das Unfassbare und Unbegreifliche, geleitet von keiner anderen Wahrheit als der, dass es keinen Text ohne Kontext gibt, kein Bild ohne Rahmen, keine Gegenwart ohne Geschichte, und keine Wahrheit, die sich nicht in Gesellschaft befindet.

Der Film steht bis zum 08.11.2024 in der Arte-Mediathek.

Neue Kritiken

Trailer zu „Saint Omer“


Trailer ansehen (1)

Neue Trailer

alle neuen Trailer

Kommentare

Es gibt bisher noch keine Kommentare.






Kommentare der Nutzer geben nur deren Meinung wieder. Durch das Schreiben eines Kommentars stimmen sie unseren Regeln zu.