Rojo – Wenn alle schweigen, ist keiner unschuldig – Kritik

Wo sich niemand für das Verschwinden Unschuldiger interessiert, sind die Spielregeln des Thrillers außer Kraft gesetzt. Rojo ist eine Mitläufergeschichte aus Zeiten der herannahenden Diktatur.

Rojo geht von einer einfachen Annahme aus, die so vielen Genrefilmen, besonders der Film-noir-Tradition, als dramatischer Motor dient: dass der Mensch als moralisches Wesen Verantwortung für sein Handeln übernehmen muss und dass ihn die Konsequenzen seiner Fehltritte unweigerlich irgendwann einholen werden. Dieser Ausgangspunkt wird von Regisseur und Drehbuchautor Benjamín Naishtat jedoch auf einen gesellschaftlichen Kontext übertragen, in dem die grundlegenden Begriffe von Recht und Unrecht gerade aus den Angeln gehoben werden. Der klare Nexus von Ursache und Wirkung, Verbrechen und Strafe funktioniert hier nicht mehr, und der Film gewinnt seine eigentümliche Spannung aus dem Wechselspiel bekannter Versatzstücke des Thrillers und deren Leerlaufen in einer Welt, in der sich grundlegende Werte des gesellschaftlichen Zusammenlebens im freien Fall befinden.

Italowestern-Assoziationen

Den Anfang macht ein Schriftzug, der uns in einer namenlosen argentinischen Provinzstadt im Jahr 1975 verortet. Ein Jahr vor dem Militärputsch also, dem sechsten, den das Land seit 1930 erlebt hat und demjenigen, der die fatalsten Folgen für die politische Opposition haben wird. Bis der Titel des Films in blutroten Buchstaben vor dem Hintergrund einer Wüstenlandschaft erscheint, vergehen fünfundzwanzig Minuten. Es handelt sich bei diesem ersten Teil des Films um eine Art von thematischer Ouvertüre, deren komplexe Bedeutungsschichten im Verlauf der Handlung vielfach entwickelt werden, bevor es erst viel später zu einer direkten Wiederaufnahme kommt.

Claudio (Dario Grandinetti) ist ein erfolgreicher und angesehener Anwalt. Er sitzt zu Beginn in einem gut besuchten Restaurant, studiert die Karte und wartet auf seine Frau. Hinter ihm an der Bar steht ein bedrohlich wirkender Mann (Diego Cremonesi), der mit seinem ungepflegten Schnurrbart und seinen schmalen Augen an Bösewichte des Italowesterns, zum Beispiel Lee Van Cleef, erinnert. Die Assoziation ist nicht beliebig, denn Naishtat fährt bereits in dieser schlichten Situation das aufwendige visuelle Repertoire des Genrekinos der 1970er auf, das dem Film seine stilistische Kontur verleiht.

Wir sehen Claudios Gesicht in Großaufnahme und hinter ihm, durch eine Verdopplung des Kamerafokus ebenso scharf, die lauernde Gestalt des Fremden, der bald darauf einen Streit um den letzten Sitzplatz im Restaurant vom Zaun bricht. Claudio räumt seinen Platz, jedoch nicht, ohne den Fremden verbal vor den anderen Besuchern bloßzustellen. Kurz darauf kommt es auf Claudios Heimweg zu einer zweiten Konfrontation zwischen den beiden, an deren Ende sich der Unbekannte selbst in den Kopf schießt. Anstatt ihn in ein Krankenhaus zu bringen, fährt Claudio mit ihm hinaus in die Wüste und lässt ihn dort zum Sterben liegen.

Die Blutspuren an den Wänden übersehen

Man ist es als Zuschauer gewohnt, dass ein solches Verbrechen in einem Thriller eine Reihe von Verwicklungen nach sich zieht, in deren Folge die Luft für den Schuldigen immer dünner wird. Hier aber scheint sich lange Zeit niemand für das Verschwinden des Unbekannten zu interessieren. Stattdessen werden wir Zeugen anderer Situationen, in denen Personen einfach „verschwinden“, und Gerüchte von Körpern, die in der Wüste auftauchen, machen die Runde. Die erste Einstellung des Films zeigt die Plünderung eines Hauses. Kurz darauf wird Claudio von seinem Freund Vivas (Claudio Martínez Bel) zu einer Dokumentfälschung überredet, die es den beiden ermöglicht, das verlassene Haus gewinnbringend zu verkaufen. Bei seinen Nachforschungen erfährt Claudio, dass die früheren Besitzer, ein Ehepaar mit Verbindungen zu Gewerkschaftskreisen, „unerwartet ausgewandert“ sind. Im Haus entdeckt er Blutspuren an der Wand, entschließt sich aber, sie zu übersehen.

Gewissermaßen ist Rojo eine klassische Mitläufergeschichte aus Zeiten der herannahenden Diktatur. Man denkt an Romane wie Klaus Manns Mephisto oder – im lateinamerikanischen Kontext – Roberto Bolaños Chilenisches Nachtstück. Werke, mit denen Naishtats Film auch einen satirischen Tonfall teilt, der es sich bei allem politischen Ernst nicht nehmen lässt, seine opportunistischen Figuren in ihrer Lächerlichkeit vorzuführen. Dieser satirische Aspekt des Films gipfelt im Auftauchen des exzentrischen Fernsehdetektivs Sinclair (Alfredo Castro), der sich in der zweiten Hälfte der Handlung an Claudios Fersen heftet.

Tragisches Foreshadowing

Obwohl schnell klar wird, dass Mitläufer wie er immer auf die Füße fallen, lässt Naishtat lange Zeit das Damoklesschwert über seinem Protagonisten schweben: Während einer Ballettprobe wird Claudios Tochter (Laura Grandinetti) immer wieder von einem Tänzer in die Lüfte gehoben und entführt. Eine Sonnenfinsternis taucht die Welt bei einem Strandspaziergang in tiefes Rot, und Claudio verliert seine Frau Susana (Andrea Frigerio) aus den Augen. In der Theorie des Drehbuchs nennt man solche Momente Foreshadowing: Das zukünftige Schicksal eines Protagonisten wird im Laufe der Handlung symbolisch vorweggenommen. Die Methode dient der Geschlossenheit der erzählten Welt: Das Ergebnis der Handlung ist in ihren einzelnen Gliedern bereits vorweggenommen, was beim Zuschauer das Gefühl einer zielgerichteten Entwicklung hervorrufen soll. Naishtat wendet diese Erzählkonvention auf geniale Weise ins Tragische. Das Foreshadowing, so wird immer deutlicher, weist womöglich gar nicht auf das Schicksal des Protagonisten hin, sondern auf das der mindestens 30.000 Menschen, die im Laufe der Militärdiktatur zwischen 1976 und 83 „verschwinden“ werden und deren Schicksal nur negativ, als symbolischer Rest in den absichtsvoll verengten Horizont der gesellschaftlichen Eliten hineinragt.

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