Raus – Kritik
Die Lüge als Gemeinschaftsmoment: In seinem Debüt Raus folgt Philipp Hirsch fünf Jugendlichen in den Wald und damit in den Versuch eines neuen Gesellschaftsentwurfes.

„Unsere Welt ist am Arsch, weil die Falschen am Drücker sind“, so sagt Glocke (Matti Schmidt-Schaller) zu Beginn in einem desillusionierten Voice-over. In Windeseile belegt das eine aggressiv montierte Aneinanderreihung zeitgenössischer Aufnahmen. Ein Panzer in der Wüste, geschredderte Küken, rauchende Industrieschornsteine, ein Flüchtlingsboot, ein Atompilz – die wirtschaftliche, ökologische und soziale Schieflage der Welt hämmert Raus effizient ins Bewusstsein. Glocke treiben aber auch Probleme ganz anderer Natur: Er möchte endlich Sex haben, am liebsten mit der hübschen Aktivistin Lena (Tijan Marei). Weil ihm das „marxistisch-leninistisch-feministische Gerüst“ fehlt, um sich einer Diskussion mit Lena zu stellen, bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich im Kampf hervorzutun. Das läuft allerdings schief, und Glocke steht unmittelbarer denn je vor der Notwendigkeit eines Neuanfangs.
Die Möglichkeit des Neuanfangs

Raus steckt zuweilen bewusst in einem dümmlichen Teenie-Ton, steht dazu, Glockes „In-der-Scheiße-Stecken“ auch im wörtlichen Sinne auszuschlachten. Auch auf der Bildebene ist Raus ganz in der Lebenswelt von Jugendlichen angesiedelt, schwankt zwischen einer unruhigen Handkamera, die an einen Smartphonezuschnitt erinnert, und romantisch übertünchten Slow-mo-Aufnahmen, die an Werbespots angelehnt sind. Die Welt, so scheint es, gibt es nur im reizüberflutenden Live oder im überhöhten Fake. Als das titelgebende „Raus“ Form und Gestalt annimmt – ein Internetuser namens Friedrich ruft dazu auf, die Rückkehr zur Natur zu wagen und sich ihm in einer abgelegenen Hütte irgendwo in den Bergen anzuschließen –, erwartet man eine Bilderwende, doch interessanterweise schlägt sich bei Raus der Neuanfang nicht in der Bildsprache nieder; womöglich die erste Absage an die Möglichkeit des Neuanfangs.

Denn auch in seinem spöttischen Teenie-Gewand widmet sich der Film mit einigem Ernst dieser großen Frage. Zu Beginn listet Glocke all die Dinge auf, von denen er gerne behaupten würde, dass er sie getan hat. Der Wille zur Tat geht vor ihre eigentliche Ausführung, „im Prinzip bin das ich“, entscheidet er für sich selbst. Der Film kehrt den Blick um, fragt nicht, was man seiner Person durch schieren Willen hinzudichten kann, sondern wovon man sich in einer neuen Gesellschaftsorganisation entledigen kann. Die Frage stellt sich erst mal auf einer individuellen Ebene. Raus deutet nur behutsam an, wie die fünf Jugendlichen, die Friedrichs Ruf folgen, vor dem Ausbruch gelebt haben. Damit folgt der Film einer der drei Grundregeln, die der Unbekannte aufgestellt hat: kein Wort darüber, woher man kommt. Kein Wort, aber ein paar Indizien: bei Steffi zum Beispiel (Matilda Merkel), der taffen Zupacker-Frau in der Gruppe, ein Reichsadler-Tattoo, das sie sich nach eigener Angabe entfernen lassen möchte.

Weitaus interessanter ist Raus aber wegen der kollektiven Bedeutung, die die Lüge einnimmt. Denn die Gruppe stellt schnell fest, dass sie ihre Existenz einer Lüge verdankt, dass diese Lüge gemeinschaftsstiftend war und dass sie es weiterhin sein kann, für sie und für andere, wenn sie an ihr festhalten. Die Unschuld des Neuanfangs können sie anderen nur gewähren, wenn sie sie anlügen, so wie sie selbst angelogen worden sind. Raus fragt nach der Legitimität von Lügen, die eine Wirkung zeitigen, die auch nach dem Aufdecken besteht; nach Lügen also, die wie verselbstständigt Wahrheit schaffen; nach einer Autorität, die vermeintliche Jünger durch den schieren Glauben an sie in Bewegung gebracht hat, ihre Autorität also ausgeübt hat, ohne je gewesen zu sein.
Das Land, wo Milch und Honig fließen

Trotz der unerschütterlichen Verortung des Films in unserer heutigen Welt – unmissverständlich eingefangen in der Aufnahme eines Smartphone-Friedhofs, den die Jugendlichen im Wald anlegen –, erinnert ihr Vorhaben an die Jugendbewegung: damals wie heute Jugendliche, die den Riss spüren, der durch die Gesellschaft geht, und in der Natur nach einer anderen Lebensform suchen. Raus zeigt Körper, die freier werden, sich von Kleidung loslösen, zueinander finden, einen Bund schließen; er zeigt eine fast bis ins Homoerotische zelebrierte Männerfreundschaft. Auch wenn die Survival-Kids nicht ohne den einen oder anderen Seitenhieb durch den Wald gejagt werden – zum Schmunzeln ist eine Szene, in der rüstige Senioren sie überholen –, ist die Natur in Raus immer wohlwollend und einladend, kann man nackt nach frischem Honig tapsen und genüsslich im See baden; die Authentizität sieht aus wie ein Instagram-Filter.
Vom Reichsadler zur Folterbiene

Doch auch über dem Land, in dem Honig und Milch fließen, schwebt ein ungutes Gefühl, und hierfür braucht es nicht einmal den Reichsadler als Denkstütze. Die Frage nach gruppengemachter Gewalt lauert im ganzen Film. Und tatsächlich kommt es zu einer verhängnisvollen Szene, in der sich das ganze Drama kollektiver Gewalt verdichtet: das gegenseitige Hochschaukeln, die Herauskristallisierung eines vermeintlich höheren Gemeinwohls, die Schwierigkeit, den individuellen Zweifeln Gehör zu verschaffen. Es ist eine Szene unerträglicher Folter und zugleich starker Ästhetik. Besonders aber prägt sich die Symbolik ins Gedächtnis: Denn zum Folterinstrument werden ausgerechnet die honigspendenden Bienen, und selten wurde Dehumanisierung so buchstäblich inszeniert.
Neue Kritiken

Mein 20. Jahrhundert

Caught Stealing

Wenn der Herbst naht

In die Sonne schauen
Trailer zu „Raus“

Trailer ansehen (1)
Bilder




zur Galerie (15 Bilder)
Neue Trailer
Kommentare
Hans Taller
Die Bilder des Filmes wirken auf den Schauer, trotz Kritik amateurhaft zu sein. Der Film wird hauptsächlich durch die Bilder präsentiert. Die Idee kommt gut an, jedoch sind Unterhaltungen an manchen Stellen oberflächlich und entwickeln sich zum Schwachsinn - die Handlungen der Protagonisten (zum Ende des Filmes) sind alogisch und könnten nur von sehr verwirrten Individuen betrieben werden - (SPOILER) die ganze Zeit verfolgen sie die Idee "Raus aus der Gesellschaft - rein in die Natur" und wenn sie fast am Ziel sind, nach sie die Idee schon selber umgesetzt haben, stellt sich heraus, dass die Idee nicht von "X" kommt, sondern von "Y", was dazu führt, dass sie sich sehr verraten und behindert die Idee weiter zu folgen fühlen. Kein etwa vernünftiges Mensch verhaltet sich so und ich finde keine Erklärung dieser Lügengeschichten, außer den Jugendlichen beizubringen, dass "Raus aus der Gesellschaft" böse und unvernünftig ist.
1 Kommentar