Possessor – Kritik
Possessor handelt von den Geistern weißer Frauen, die in fremde Körper fahren und Auftragsmorde begehen. Brandon Cronenbergs Film führt vor Augen, warum Body-Horror oft nachdrücklicher politisch ist als inszenatorisch reflektierte Lehrstücke.

Geheimnisse müssen nicht informationsförmig sein. Oft ist es ja die Sehnsucht nach Wissen, die uns Zuschauende mit den Figuren eines Films in Gefahren lockt, die vordringen lässt in bedrohliches Terrain, die verspricht, nachträglich mit Sinn zu füllen, was man vorher noch nicht kannte. Aber ein Geheimnis kann auch eine neue Form des Fühlens sein. Eine mysteriöse Begierde, die erfahren werden und nicht als Wissen festgehalten werden will. Intensität statt Information. Empfindung statt Erkenntnis. Was bleibt, ist die Gefahr, sich zu verlieren.
Race, Gender, Identität im Genregewand

Brandon Cronenbergs Possessor ist ein Film, der Risiken eingeht. Ein Film, der sich bewusst in Zonen der Unsicherheit und Missverständlichkeit begibt und dort verweilen will. Das beginnt damit, dass hier Genres einander auf interessante Weise irritieren und entgrenzen: Possessor ist einerseits waschechter Sci-Fi voller Spekulationen dazu, was heute möglich scheinende, quasi greifbare Technologien mit uns und unseren Psychen machen. Andererseits gibt es viel drastische, ausführlich zelebrierte Gewalt, was die technologischen Psychospielchen dezidiert in Richtung Body-Horror treibt.

Und so ist es zugleich ein Film, der einmal mehr vor Augen führt, warum das Genrekino oft durch den Körper hindurch nachdrücklicher politisch grübeln kann als inszenatorisch reflektierte und politisch abgewogene Filme. Da ist Brandon Cronenberg ganz der Papa. Possessor verhandelt Race, Gender, Identität, aber weniger als Lehrstück denn als Erlebnispark. Oder, besser: als Geisterbahn.

Gleich zu Beginn, im ersten vieler blutiger Close-ups, sticht sich eine junge schwarze Frau (Gabrielle Graham) erst eine Elektrode ins Hirn und jagt sich dann mit einem ziemlich altmodischen kleinen Gerät Stromstöße durch den Körper. Sie schaut im Spiegel zu, wie sich ihr Gesicht verzieht: Sie lacht, weint, starrt. Sie trainiert Ausdruck. Sie ist nicht sie selbst. Ihr Körper ist eine Puppe. Schon in dieser ersten Szene legt Possessor alle im Titel angedeuteten Karten auf den Tisch: Es geht um Besessenheit, Kurzschlüsse von Körper und Geist, um Ich-Verlust, Perversion, Gewalt. Nichts daran ist geheimnisvoll im Sinne vorenthaltener Information, alles ist sichtbar. Aber die Szene bleibt mysteriös. Wer fühlt da was? Grauen? Joussaince? Beides?
Weiße Geister, schwarze Klischees

An diese ungreifbare, schweigende, geradeaus starrende Empfindungspuppe bindet uns die Eröffnung anschließend in Gaspar Noé-hafter Hypereinfühlung. Kippende Kamerawinkel, dröhnende Musik, dumpf-unhörbare Dialoge und eine gleitende Bewegung durch sterile Hotelfluchten bis zur nicht wirklich überraschenden, aber dennoch schockierenden Klimax: Die Frau drückt einem weißen Typen in einer Bar ein Messer in die Halsschlagader. Wieder ein Close-up, wieder eine Penetration, etwas Spitzes dringt ein in Fleisch. Blutfontänen, schreiende Menschen, Polizeisirenen. Die Frau steckt sich eine Pistole in den Mund (nächste Penetration), zittert, will abdrücken – und richtet dann die Knarre auf die hereinkommenden Polizisten. Sie stirbt im Kugelhagel. Consider this a trigger warning: Possessor startet mit dem Bild eines justifiable killing einer schwarzen Person.

Aber sie war ja gar nicht sie selbst. Die weiße Tasya Vos (Andrea Riseborough) hatte mithilfe einer Maschine von ihr Besitz ergriffen, um einen Auftragsmord zu begehen. Im Feedback-Gespräch mit ihrer Chefin Girder (Jennifer Jason Leigh) geht es darum, warum sie ihr Opfer erstach, wo sie doch eine Pistole hatte. „I thought it’d be more in character“, sagt Vos. „Whose character?”, fragt die Chefin. Zonen der Unsicherheit: Wessen Bild war das? Wessen Handlung, die zum Tod einer schwarzen Frau geführt hat? Wer hatte Kontrolle?

In der knapp vor unserer Gegenwart gelegenen Alternativrealität von Possessor ist es eine Allianz von Sci-Fi-Technologie und den Geistern weißer Frauen, die in Körper fahren und mit ihnen Geld machen. Auftragsmorde per Fernsteuerung. Das ist eine schöne kapitalistisch-rationalistische Umkehrung des sonst oft schwarz und heidnisch konnotierten Besessenheitsmotivs, wie es Bertrand Bonello gerade in Zombi Child (2019) sehr schön postkolonial geupdated hat.
Queering Horror

Die nächste menschliche Puppe wird Colin Tate sein, ein weißer Mann (Christopher Abbott). Den Rest des Films wird die mordende Puppenspielerin Vos mit ihm um Kontrolle ringen. Man findet schon jetzt im Netz längliche Abhandlungen darüber, wer wann wen kontrolliert in Possessor, wie das Ende zu verstehen ist etc. pp. Und ja, man kann ihn als einen Mindgame-Film sehen, mit verschachtelter Erzählung zur Entschlüsselung für die ganz cleveren Typen unter uns. Aber irgendwie führt solches Streben nach Vereindeutigung hier in die falsche Richtung.

Possessor ist gerade dann spannend, wenn er sich in Ambivalenzen suhlt. Identitäten lösen sich auf, wenn Vos und Colin immer öfter in einem Shot erscheinen. Gendergrenzen werden durchlässig, Softporn wird zu Hardcore, wenn sich irgendwann beim Sex auch ihre Körper vereinen. Grauen und Lust, sexuelles Begehren und mörderischer Trieb, Befreiung und Unterwerfung gehen ineinander über. In solchen Momenten ist der Film queer im besten Sinne. Aber in anderen ist er auch abgeschmackt, erzählerisch frustrierend schlecht gebaut, fast gewaltsam immersiv und voller klischeehafter Bebilderungen psychischer Vorgänge. Immer wieder wird das Spiegelmotiv bemüht, werden Colins und Tanyas Gesichter einander gegenübergestellt, überblendet, verzerrt, während der Soundtrack wummert, kreischt, überwältigt. Gerade in seinen lautesten, schrillsten Momenten ist der Film, nun ja, konservativ.

Possessor ist aber vor allem eins: Metakino. Er kostest genussvoll aus, was Film außergewöhnlich gut kann: in Körper fahren mit technisch vermittelten Bildern und Geräuschen. Und er erzählt davon, wie mit obskuren Technologien von Körpern Besitz ergriffen wird. Er ist in gewisser Weise post-postmodern und post-post-truth, weil er die grundsätzliche Instabilität von Wahrheit, Psyche, Identität nicht mehr beklagt, sondern voraussetzt, jede Sehnsucht nach Klarstellung, nach beruhigendem Wissen danach, was wahr ist und was falsch, wer du bist und wer ich, schon lange hinter sich gelassen hat. Stattdessen sucht er den Genuss am und das Grauen vor dem Entgrenzen. Auch auf die Gefahr hin, dabei zu scheitern.
Neue Kritiken

Mein 20. Jahrhundert

Caught Stealing

Wenn der Herbst naht

In die Sonne schauen
Trailer zu „Possessor“

Trailer ansehen (1)
Bilder




zur Galerie (18 Bilder)
Neue Trailer
Kommentare
Es gibt bisher noch keine Kommentare.