Polizeiruf 110: Jenseits des Rechts – Kritik
VoD: In seinem neuen Polizeiruf lässt Dominik Graf das Münchner Ermittlerduo durch die Welten der Internetpornografie und der Upperclass stolpern. Jenseits des Rechts will ziemlich viel auf einmal, bringt mit seiner Eskalationslust aber auch ein bisschen Kino in den ÖRR.

Gerade als Mia (Emma Preisendanz) dachte, sie hätte mit „Lucky“ (Florian Geißelmann) einen Partner fürs Leben gefunden, bei dem sie sich anlehnen, gehen und fallen lassen kann, da wird die junge Liebe auch schon jäh zerstört. Der junge Mann, der sich seinen Unterhalt mit Livestream-Pornos aus seinem Wohnwagen verdiente und dafür auch Mia einspannte, schafft in Jenseits des Rechts nicht mehr als drei, vier Minuten Screentime: Dann findet man ihn mit einer Giftspritzeneinstich am Hals. Es ist nicht der erste Verlust in Mias jungem, gerade einmal 16-jährigem Leben: Auch ihre Mutter ist nicht mehr da, unheilbarer Krebs.

Ihre Social-Media-süchtige Schwester Sasha (Falka Klare) und der Vater Ralph Horschalek (Martin Rapold), ein stadtbekannter und durch eine Skandalserie angezählter Goldgroßinvestor, bringen Unordnung in ihr Leben. Das Goth Girl sucht aber Menschen, denen sie vertrauen und sich anvertrauen kann. Beim Freund der Familie und Jugendpsychiater Martin (Michael Roll) ist sie sich nicht sicher, ob es ihm wirklich um ihr Wohl geht. Vielleicht kann Cris (Johanna Wokalek) für sie so etwas wie eine Mutter sein, die Kommissarin, die den Mord an „Lucky“ untersucht, mit dem Mia eine kurze, heftige und letztlich wohl toxische Beziehung führte. Aber ist das Mädchen nicht zugleich eine der Hauptverdächtigen?
Zwischen Hardboiled-Attitüde und Leberkäs-Provinzialität

Dominik Grafs neuer Fernsehkrimi fühlt sich zunächst wie ein kleiner, kompakter Film an: Ziemlich zu Anfang geschieht der eine Mord, bei dem es (für meine Begriffe unverhofft) bleiben wird, schnell werden Verdächtige aus dem nächsten Umfeld des Opfers und der Horschaleks ausgemacht, allen voran Mias Vater, der sich womöglich einen weiteren Skandal in Form von kompromittierendem Videomaterial seiner Tochter vom Leibe schaffen wollte. Alles kreist um wenige, wiederkehrende Schauplätze: eine Villa, ein Trailer, ein Konzernfoyer und ein paar Reihenhausinterieurs; das Figurenensemble ist überschaubar; Graf verzichtet auf Action wie Verfolgungsjagden, Schießereien oder Ähnliches. Dennoch hat der Münchner Polizeiruf viel von der Quirligkeit und der semi-jugendfreien Schau- und Eskalationslust, die Grafs Krimis seit den 1980ern ausmachen und ihnen treue Fans eingebracht haben.

Doch der schlichte Krimiplot um den wahlweise Rache-, Vertuschungs- oder Lustmord an Pornostar „Lucky“ franst zusehends in alle möglichen Richtungen aus, schlägt Haken. Da sind zum einen die Untiefen der Livestream-Amateurpornografie, deren Sprech-, Vermarktungs- und Inszenierungsweisen genüsslich – eben soweit es die TV-Hauptsendezeit erlaubt – ausstaffiert werden; zum anderen die Einblicke in ein gänzlich anderes, aber nicht minder gefühlskaltes Milieu: die Münchner Schickeria der Gated Communities und Konzernzentralen, in denen man neben Goldgeschäften auch Waffendeals abschließt. Durch diese Welten stolpert das offenbar weder mit Internetpornografie noch der Upperclass gänzlich vertraute Ermittlerduo; pendelnd irgendwo zwischen gesetzesuntreuer Hardboiled-Detective-Attitüde und kalauernder Leberkäs-Provinzialität.

Die Mehrstimmigkeit des Ganzen hat Methode: Immer dann, wenn es in Jenseits des Rechts einmal bedrohlich wird, kassiert kurz darauf eine humorvolle Szene die aufgebaute Spannung wieder ein. Der Film macht immer neue Türchen auf, während sich sein Mordplot (allzu) gemächlich von A nach B bewegt. Gänzlich zum Erliegen kommt die Spannung jedoch nicht. Graf schafft es wieder einmal, alles im Fluss zu halten, ohne Leerlauf von einer Szene in die nächste hinüberzugleiten. Schnelle Schnittfolgen, harte Zooms auf Bilddetails, Extravaganzen wie eine lange Splitscreen-Dialogszene zu Beginn und eine neonleuchtend violette Partyszene gen Ende: nicht weniger als ein bisschen Kino bei den Öffentlich-Rechtlichen.
Mit aristokratischer Fallhöhe

Graf selbst bezeichnet seinen Polizeiruf-Einstand bei den Kommissar:innen Cris Blohm und Dennis Eden (Stephan Zinner) als „Beinahe-Komödie“ vor tragischem Hintergrund. Man könnte sagen, es ist der Versuch einer Familiensaga im Geiste von Douglas Sirks In den Wind geschrieben (Written on the Wind, 1956) – nur eben mit Hang zur Absurdität des Zeitgeists: ein Kaleidoskop menschlicher Leidenschaften mit aristokratischer Fallhöhe, ein Film, der gleichermaßen von Sipp- und Seilschaften, Darknet, Finanzweltlage, Tiktok, Teenage Angst, „Digga“-Jargon, McDonalds-Albträumen und juristischen Grauzonen erzählt – und das in unter 90 Minuten. Jenseits des Rechts will Krimi, Melodram, Milieustudie, Familien- und Jugenddrama und somit vieles zugleich sein. Das ist Fluch und Segen.

Ein Fluch ist es, weil vieles in der gebotenen Kürze notwendig Skizze bleibt, was mehr ausgemalt doch mehr Spaß bereitet hätte. Während das Zwischenmenschliche plastisch herausgearbeitet ist, sind die Milieus oft einsilbige Drehbuchsätze. Das schlägt umso mehr zu Buche, als gerade die Schilderung hermetischer Räume – etwa die der Grenzprostitution in Das unsichtbare Mädchen (2011) oder das Prozedere des launigen Polizeiapparats in Eine Stadt wird erpresst (2006) – sonst eine Stärke von Grafs Crime Fiction ist. Angelehnt an das Faible des Regisseurs für italienisches Genrekino der 1960er- bis 80er-Jahre könnte man sagen: Sein Polizeiruf fühlt sich mehr wie ein „vakuumierter“ Giallo-Krimi an als wie ein wirklichkeitshungriger, seine großstädtischen Schauplätze ausstaffierender Poliziottesco-Polizeifilm.
Überraschende "Beinahehaftigkeit"

Vielleicht ist das Sprunghafte aber auch ein Segen? Der Genremix hat jedenfalls bei aller Unzulänglichkeit auch sein Unerschrockenes: Grafs Polizeiruf ist der Versuch eines Fernsehgenrefilms, der erzählerisch Neues ausprobiert, sich nicht auf den geglückten Krimikonzepten der Vergangenheit ausruht und mit seiner „Beinahehaftigkeit“ den einen oder die andere überraschen dürfte. Apropos: Jenseits des Rechts hat sicher eins der ungewöhnlichsten, weil verknapptesten Filmenden, das 2024 über deutsche „Mattscheiben“ zog.
Der Film steht bis 29.12.2025 in der ARD-Mediathek.
Neue Kritiken

Yen and Ai-Lee

Die Möllner Briefe

The Negotiator

The Uniform
Bilder zu „Polizeiruf 110: Jenseits des Rechts“




zur Galerie (10 Bilder)
Neue Trailer
Kommentare
Es gibt bisher noch keine Kommentare.