Piercing – Kritik
VoD: Sein knüppelharter Debütfilm The Eyes of my Mother begeisterte viele Horrorfans. In Piercing trollt Regisseur Nicolas Pesce nun genau diese Zielgruppe.

Nicolas Pesce weiß, wie man Gorehounds erregt. In den ersten Minuten von Piercing zeigt er, wie Reed (Christopher Abbott) einen Eispickel auf einen Säugling richtet – seinen eigenen Sohn. Dieses Vorspiel dürfte das Blut vieler Horrorfans in Wallung bringen, in der frohen Erwartung, dass das Blut auf der Leinwand gleich spritzen wird. Doch dann erwacht Reeds Frau Mona (Laia Costa aus Victoria, 2015) und der junge Vater ist gezwungen, den Mordversuch abzubrechen.

An solchen Formen des cineastischen „Dick Teasing“ hat Pesce, der mit dem verstörenden Folterfilm The Eyes of My Mother (2016) bekannt wurde, spürbar große Freude. So streut er später eine Hommage an eine der größten Dick-Teasing-Szenen der gesamten Filmgeschichte ein: das Verhör von Sharon Stone in Basic Instinct (1992), in dem ebenfalls ein Eispickel eine stechende, Pardon: tragende Rolle spielt. Noch anspielungsreicher gestaltet Pesce die Tonspur: Im Vorspann unterlegt er die Kamerafahrten über eine sofort als Pappkulisse erkennbare Stadt mit Stelvio Ciprianis Lied „Too Risky A Day For A Regatta“ aus dem Italo-Trashfilm Tentacoli (1977), der in Deutschland unter dem hochsubtilen Titel Der Polyp – Die Bestie mit den Todesarmen vermarktet wurde. Der Song ist wiederum eine Variante von Ciprianis „La polizia sta a guardare“ aus dem gleichnamigen Krimi (1973), auch zu hören in der berauschenden Giallo-Huldigung Amer (2009). Der Abspann wird dann vom musikalischen Zentralmotiv aus dem Klassiker Tenebre (1982) von Giallo-Übervater Dario Argento begleitet.
Alles klingt nach Horror

Keine Sorge, Piercing ist auch ganz ohne filmhistorische Ebene eine Freude. Denn wenn schon nicht das Baby abgestochen wird, dann doch wohl zumindest das Callgirl. Reed hat seiner Frau mitgeteilt, dass er auf Geschäftsreise muss – wobei das einzige Geschäft darin besteht, eine Prostituierte anzuheuern, um endlich die langersehnte Erfahrung eines Mordes zu machen. So beginnt Pesce also das zweite Vorspiel des Films. Wir sehen, wie sich Reed im Hotelzimmer minutiös auf seine Tat vorbereitet, während er auf die Ankunft des Callgirls wartet. In einer Trockenübung geht er jeden einzelnen Schritt durch und wir hören dabei bereits all die Geräusche, die wir aus solchen Mordszenen kennen: die Penetration des Fleisches mit der Waffe, das Absägen von Gliedmaßen, das Schleppen des Leichnams. Selbstverständlich geht Reeds Plan aber vollkommen schief, als die blonde Jackie (Mia Wasikowska) endlich eintrifft. Erneut verzögert Pesce so den Genre-Orgasmus, erneut bleibt der Blutdurst im Kinosaal ungestillt.
Pretty Woman 2

Doch Pesce wird noch gemeiner. Irgendwann landen die beiden in Jackies Wohnung und kommen sich, nachdem Jackie ihrem Mörder in spe einen Espresso angeboten und über die geschmacklichen Vorzüge von Milch und Currypulver geplaudert hat, auf der Couch immer näher. Was für ein trojanisches Pferd! Da werden Gorehounds mit spektakulären Stills geködert und finden sich plötzlich in Pretty Woman 2 wieder. Beinahe meint man, noch im Kinosaal das Gelächter des Regisseurs zu hören. Auch das Timing des letzten Witzes – nach Vorspiel Nummer Drei – geht auf Kosten der Zuschauer und ist so bösartig-perfekt wie das Erscheinen des „Buffering“-Symbols auf YouPorn in den entscheidenden Sekunden des Masturbierens.
Ein gewagter Streich
Wenn man will, kann man Pesce vorwerfen, dass er es mit den surrealen Einsprengseln zum Ende hin etwas übertreibt, nur um kraftmeiernd zeigen zu können, was er visuell drauf hat. Wahrscheinlich sind auch ein oder zwei Twists zu viel in den Plot eingebaut. Aber das Spiel, das der Regisseur in seinem 80-minütigen Streich mit den Erwartungen des Publikums treibt, ist so vergnüglich, dass solche kleinen Schwächen Piercing kaum etwas anhaben können. Es gibt wohl keinen effektiveren Weg, die mit The Eyes of My Mother gewonnenen hartgesottenen Horrorfans gleich wieder zu verscheuchen, als ihnen eine halbe RomCom zu servieren. Chapeau für diese Chuzpe!
Der Film steht bis zum 01.08.2022 in der Tele5-Mediathek.
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