Pieces of a Woman – Kritik
Neu auf Netflix: Pieces of a Woman handelt vom Trauma einer Totgeburt, sucht in einer atemlosen Plansequenz nach dem filmischen Äquivalent für diese Erfahrung und haut einem die Metaphern nur so um die Ohren.

Ein bisschen verwundert war ich schon, als im letzten Jahr vom Lido in Venedig Infos über Kornél Mundruczós ersten englischsprachigen Film durchdrangen. Die intime Geschichte einer Frau und ihrer Familie nach einer Totgeburt? Hatte Mundruczó nicht vorher eine Heidenarbeit an Inszenierung betrieben und eine Armee von Hunden durch Budapest gejagt (Weißer Gott, 2014)? Und die ungarische Hauptstadt anschließend in schwindelerregenden Long-Takes gegen einen schwebenden Flüchtling aufgehetzt (Jupiter’s Moon, 2017)? Gegen jene – im letzten Fall: quite literally – in fantastische Höhen fliegenden Filme hörte sich die Prämisse von Mundruczós nunmehr drittem Film – den er zusammen mit seiner Partnerin und Drehbuchautorin Kata Wéber realisiert hat – eher am Boden geblieben an, also nach Stilwandel.
Viszerale Prämisse

Die Eröffnung von Pieces of a Woman fängt die anfängliche Verwunderung wieder ein wenig ein. Zwar ist hier tatsächlich keine Fantastik am Werk, aber in den ersten 30 Minuten macht Mundruczó gleich mal klar, dass sich sein aufwendiger Inszenierungsstil problemlos auch in die Privatsphäre einer Familie in Boston übertragen lässt. Die aus einer wohlhabenden Familie stammende Martha (Vanessa Kirby) ist hochschwanger vom eher proletarischen Sean (Shia LaBeouf), der als Vorarbeiter am Bau einer Brücke beteiligt ist und schon auf Arbeit ankündigt: „I promise my daughter’s gonna be the first one to cross this bridge!“

Wie diese Tochter dann bei einer Hausgeburt zur Welt kommen wird; wie Martha und Sean die Nachricht bekommen, dass eine andere Hebamme als erwartet helfen wird, während die Wehen in immer kürzeren Abständen treffen; wie Vanessa Kirby die Szene mit einer geradezu viszeralen körperlichen Präsenz einnimmt; wie der Puls der Tochter im Mutterleib für die Hebamme zunehmend unhörbar wird, das Neugeborene nach einer Herzmassage erst doch zu atmen und schreien beginnt, dann wieder blau anläuft und die eintreffenden Sanitäter wohl nicht mehr helfen können: All das packt Mundruczó in eine ziemlich beeindruckende, 23-minütige, tatsächlich atemlose Plansequenz.

Und was in den vorherigen Filmen alles an komplexer Inszenierung und Aufwand in die zahlreichen Komparsen und die „Wie zur Hölle geht das?“-Kamerafahrten geflossen ist, steckt jetzt in der Schauspieldynamik zwischen der würgend-röhrenden Martha, dem engagierten, aber zu aufgeregten Sean und Hebamme Eva (Molly Parker), die das Paar erst noch routiniert handhabt, bald selbst Schlimmstes vermutet und sich trotzdem bemüht, nicht die Ruhe zu verlieren.
Die Arthouse-Drama-Checkliste abhaken

Die Prämissen von Mundruczós Filmen sind für mich noch nie so richtig aufgegangen: Abgesehen von ihren jeweiligen Schauwerten, wusste ich in Budapest weder mit den ganzen Streunern noch mit einem plötzlich fliegenden Syrer etwas anzufangen. Dass aber ein Film, der vom Verarbeiten des Traumas einer Totgeburt handelt, nach dem filmischen Äquivalent für diese Erfahrung sucht und anschließend nicht nur die Figuren, sondern auch wir Zuschauer einen ganzen Film lang etwas zu verarbeiten haben, das leuchtet als Konzept durchaus ein.

Mit dem wuchtigen Auftakt weiß Pieces of a Woman den Rest seiner Laufzeit dann aber erstaunlich wenig anzufangen. Die versprochene Verarbeitung des Traumas spielt sich meist als ziemlich solides, oft aber auch wie am Reißbrett entworfenes Arthouse-Drama ab. Wie eine Checkliste arbeiten Mundruczó und Wéber die dafür nötigen Szenen und Mittel pflichtbewusst ab. Erstmal natürlich die Reintegration Marthas in den Alltag samt betroffenen Blicken auf der Arbeit und der aufdringlichen, pietätlosen Freundin der Mutter („I know absolutely everything! Gosh, it’s so horrible!“). Auf jeden Fall die Szenen, in denen Martha andere Kinder in ihrem innigen Verhältnis mit den Eltern sieht (Das hätte sie sein können!). Und auch die körperlichen Spuren dürfen nicht fehlen. Also noch schnell Marthas mit Blut betropfte Windel filmen und die Muttermilchflecken auf dem Oberteil einbauen. Zum Schluss noch der Rückfall des über vier Jahre abstinenten Sean in so ziemlich alle schlechten Gewohnheiten seines Herkunftsmilieus (Rauchen, Drogen, Alkohol) und die nie so ganz heimliche Verurteilung Marthas durch die Martriarchin der Familie (Ellen Burstyn).
Bruch ohne Brücke

Vor allem aber werden einem im zweiten Teil des Films die Metaphern nur so um die Ohren gehauen: Kerne, die Martha aus einem Apfel holt, um sie aufkeimen zu lassen; grüne Pflanzen in der Wohnung, die bald austrocknen; die Brücke, die langsam fertig wird, um den kalten Fluss samt darauf treibenden Eisscherben überwinden zu können; und Monologe Seans über die Statik von Bauwerken und ihr Zusammenbrechen. Nie können diese Bilder und Momente eine eigene visuelle Kraft entfalten oder gar für sich stehen, müssen sich für ihre Daseinsberechtigung eng an die Geschichte des Films heften.
Nur ist diese sichtbare Mühe ohnehin vergeblich. Denn dass Martha am Ende bereit ist, ihr Leben neu erblühen zu lassen, dass die Beziehung zwischen ihr und Sean zwar verwelkt, irgendwann in sich zusammenbricht, dass man aber (auch gegenüber der Familie) bald bereit ist, die emotionale Kälte zu überwinden und die Scherben des Traumas zu beseitigen, davon erzählt Pieces of a Woman in seinem zweiten Teil sowieso ausdehnend. Es ist, als würde ein Film nach seinem virtuosen Beginn hier selbst auseinanderbrechen. Nach knapp 30 Minuten gewissermaßen einen neuen Film anzufangen, einen ästhetischen Spalt zu öffnen, um in einen thematischen Abgrund zu blicken, das ist Mundruczós und Wébers Masterplan für Pieces of a Woman. Die Kluft irgendwann auch wieder zu überbrücken, das Ganze zu einer stimmigen Erfahrung zu versöhnen, das können aber wohl nur ihre Figuren.
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