Petite Maman - Als wir Kinder waren – Kritik
VoD: Céline Sciamma feiert in Petite Maman Übergangsszenarien und Herbstfarben. Ein Film, der nach seinem eigenen Platz sucht – nur dem Anschein nach mit weniger Wucht als Porträt einer jungen Frau in Flammen.

Bücher, Möbel, Krankheiten, Krimskrams im Wandschrank, Geheimnisse, Ängste. Es sammelt sich was an in drei Generationen, das ausgepackt und sortiert werden will. Ein Tod, schon geschehen, bevor der Film beginnt, ist Anlass für diese Bewegungen. Die Tür vom Wandschrank scheint nicht mehr richtig zu schließen, Nelly (Joséphine Sanz) muss sie immer mal wieder anstupsen, wenn sie durch den Flur im Haus der verstorbenen Großmutter läuft. Da will etwas raus aus den Dingen, was in ihnen schlief, aus den Menschen und aus dem fünften Film von Céline Sciamma.
Auf ein Wiedersehen

Ein Film, der arbeitet, in dem etwas arbeitet, und der mit einem Abschied beginnt. Oder eher: mit einer Übung im Abschiednehmen. Stoisch folgt die Kamera Nelly durch die Flure des Krankenhauses, wo die Achtjährige den alten Damen in den Einzelzimmern der Reihe nach ein höfliches „Au revoir!“ entgegenruft. Später wird Nelly ihrer trauernden Mutter (Nina Meurisse) erzählen, dass sie das bei der Oma genau nicht geschafft hat, so richtig Tschüss zu sagen, wie geht das überhaupt. In der Sequenz des wiederholten Auseinandergehens, die am Anfang von Sciammas Petite Maman steht, steckt gleichzeitig ein Moment des Wiedersehens, ein tatsächliches Revoir, wenn sich in der erkennbaren, sanft-klaren Kadrierung von Claire Mathon das begegnet, was geht, und das, was bleibt.

Was für ein Film auf Porträt einer jungen Frau in Flammen (2019) folgen kann, dieses Arrangement lesbischer Liebe, dringend nötige Brandstiftung im Kino der Blickkonstellationen, dezidiert geplant und durchdacht, ohne mit Kühlheit zu verschrecken, das ist die Meta-Frage, die über Petite Maman schwebt. Na ja. Schwierig. Vielleicht eben ein Werk, das zurückschaut auf Gewesenes, um sich selbst in die Gegenwart werfen zu können. Mag Petite Maman zum Beispiel aufgrund des kindlich anmutenden Universums, das über die Figur von Nelly entwickelt wird, an die frühere Coming-of-age-Trilogie aus Water Lilies (2007), Tomboy (2011) und Mädchenbande (2014) erinnern (und insbesondere an Tomboy, wenn sich Geschlecht in beiden Filmen als Spielverabredung zeigt), rückt Sciamma hier nicht per se das Mädchen und seine Umwelt in den Fokus. Nelly ist nicht Protagonistin, kann sie gar nicht sein, denn es gibt in Petite Maman keine Vereinzelung. Leben passiert immer nur im Kontext, in der Verflechtung, ist schon passiert oder wird, darin doch wieder ganz Coming-of-Age, bald passieren. Ein Film, der nach seinem Platz sucht – nicht nur in Sciammas bisherigem Schaffen, sondern auch im eigenartigen, diesjährigen Berlinale-Wettbewerb, wo nur drei von fünfzehn Filmen unter ausschließlich weiblicher Regie entstanden sind. Speth, Schrader, zum Glück Sciamma.
Die Linearität unterlaufen

70 Minuten, schon wieder eine Zahl. So kurz ist Petite Maman, dennoch schafft Sciamma in dieser Zeit so viel, dass sich fragen lässt, wieso andere dafür länger brauchen. Während Nellys Mutter verschwindet, der Vater (Stéphane Varupenne) die Bude der toten Schwiegermutter ausräumt, stapft das Kind in den Wald und trifft auf ein gleichaltriges Mädchen (Gabrielle Sanz), das ein Häuschen aus Baumstämmen baut, eines, das Nelly aus den Erzählungen der Mutter kennt, die dort aufgewachsen ist. Die Spielpartnerin stellt sich als Marion vor, auch der Name der Mutter, ein Zufall, nein, es ist die Mutter, eben eine andere Ausgabe von ihr. Eine kleine Mutter, diese Marion, die den Arm um ihr Kind legt, das hoch und alt ist wie sie selbst, und die mit ihm Crêpes macht. Eine Erinnerung? Eine Imagination? „You come from the future?“, fragt Nelly zur Klärung. Die Marion, die aus der Marion spricht, antwortet: „I come from the path behind you.“ Sciamma wagt diesen Stunt, der gewollt wirken könnte, verbindet Töchter und Mütter über die Zeiten hinweg. Sogar die Großmutter ersteht wieder als jüngere Version auf; eine Trias der Weiblichkeit also, die Petite Maman versammelt. Und da ist sie dann endlich für Nelly, die Möglichkeit, sich von der Verstorbenen zu verabschieden. Das Üben am Anfang hat sich gelohnt.

Zu Beginn ein Abschied, zum Ende ein Wiedersehen: Solch eine Klammer setzt Sciamma um ihren Film, die Linearität verspricht. Petite Maman unterläuft sie allerdings und schlägt andere Pfade ein, berichtet mit schlichten wie zauberhaften Bildern von den rites de passage, feiert Übergangsszenarien und Herbstfarben, die der Winter demnächst vertreiben wird. Doch nur dem Anschein nach hat dieser Film nicht die Wucht, die Porträt einer jungen Frau in Flammen auszeichnet. Petite Maman hat es ganz schön in sich. Seine Kraft will nur anders entdeckt werden, wenn er über Sehnsucht und Trauer fabuliert, über Lichtschalter, die Kinder in ein Morgen teleportieren, und Geheimnisse, die sich nicht verstecken, sondern denen nur ein Gegenüber fehlt, dem sie erzählt werden wollen.
Der Film steht bis 17.09.2023 in der WDR-Mediathek.
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Kommentare
Dirk Böhme
Anne Küper ist die Beste. Bin genauso Fan von ihren Texten wie von den Filmen von Céline Sciamma (PETITE MAMAN hat mich zu Tränen gerührt).
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