Pearl – Kritik
Die junge Pearl wünscht jedem den Tod, der ihrer Traumerfüllung im Weg steht. In seinem Prequel zu X übertreibt Ti West das Drama bis in seine aberwitzige Entstellung. Zitate und Stil-Pastiche sind dabei nie Selbstzweck, sondern Teil eines virtuosen Erzählens.

In X (2022) trifft Maxine (Mia Goth), die selbstbewusste Pornodarstellerin mit dem Je ne sais quoi, auf Pearl (ebenfalls Mia Goth), eine 80-jährige Farmerin, der es schwerfällt zu akzeptieren, dass die jungen Leute vor ihrem welken Körper zurückschrecken. X wird eben darum zum Slasher, weil Pearl, die junge Frau im alten Körper, sich blutig dafür rächt, dass niemand Attraktives und Potentes mit ihr schlafen möchte – während Maxine, die ihren jungen Körper noch besitzt, ihre Freiheiten voll auskostet. Die beiden von Goth gespielten Figuren sind somit Teil der Dopplungen und Spiegelungen, die Ti Wests Film antreiben. Nicht zuletzt, wenn Pearl Maxine hasserfüllt prophezeit, dass es ihr nicht anders ergehen werde als ihr selbst. Schließlich habe sie vor Jahrzehnten Maxines Leben bereits gelebt.
Kein Interesse an Babylon

Es läge deshalb nahe, dass uns das Prequel zu X nun vom ausschweifenden Leben Pearls in den wilden Zwanzigern erzählt, von ihrem Leben in der Filmindustrie oder auf deren pornografischer Schattenseite. Doch Pearl hat zum Leidwesen seiner Hauptfigur nur wenig Interesse, uns Ähnliches wie Babylon – Rausch der Ekstase (2022) zu zeigen. Statt also aus Pearl die Maxine einer anderen Ära zu machen, bleibt sie auch im Porträt ihres früheren Lebens in einem Käfig. Nur ist es nicht ihr Körper, in dem sie gefangen ist, sondern die elterliche Farm. Und während Pearl in X noch von ihrer Vergangenheit träumte, ist es nun die Zukunft, der sie nachhängt.
Wir schreiben das Jahr 1918. Der Erste Weltkrieg endet bald, die Spanische Grippe grassiert, und Pearl wartet auf die Rückkehr ihres Mannes aus dem Krieg, damit er sie endlich in ein eigenes Heim mitnimmt und von ihrer Familie befreit. Der paralysierte, pflegebedürfte Vater (Matthew Sunderland) ist für sie eine Last. Die strenge, puristische Mutter (Tandi Wright), die von ihr Haushalten, Realitätssinn und Sittsamkeit verlangt, reichert das Familienheim für die nach Sex und Ruhm strebende Pearl mit Klaustrophobie an. Das Spielerische, mit dem sie sich der Außenwelt nähert, ist in den heimischen vier Wänden zu jeder Zeit durch Strafe und Verachtung belagert. Die Isolationsforderungen durch die Pandemie sind für unsere Protagonistin eine Qual, der sie lieber aus dem Weg geht.
Luftiges Außen, loderndes Innen

Denn draußen scheint ein Wunderland zu warten – mit den Versprechungen einer weiten Welt und von Hollywood. Pearl sucht in der Stadt die Nähe des Filmvorführers (David Corenswet), der sie mitnehmen möchte, der ihr sagt, dass sie sich gut auf der Leinwand machen würde, der ihr Stummfilmpornos zeigt. Pearl hofft auch auf ein Vortanzen, das ihre Karriere kickstarten soll. Vor allem aber ist draußen anscheinend alles möglich, während drinnen nur die strenge Pflicht wartet. In einem der ersten abstrusen Höhepunkte des Films führt der Wind Pearl in ein Kornfeld und macht sie zur Dorothy aus Der Zauberer von Oz (The Wizard of Oz, 1939). Eine (wenig vertrauenerweckende) Vogelscheuche findet sie dort. Pearl bittet sie zum Tanz und verlustiert sich dann voller Hingabe an ihr. Weshalb die Rückkehr ihres Mannes auch wie ein Damoklesschwert über ihr hängt, eine Ehe gegenüber dem eigenen Ruhm nur noch ein Trostpreis scheint.
Dass diese Spannung zwischen innen und außen, zwischen trister Realität und realistischen wie fantastischen Wünschen nicht spurlos an Pearl vorbeigeht, ist schon spürbar, bevor der Titel überhaupt eingeblendet ist. Das erste unschuldige Tier ist da schon durch ihre Hand gestorben, und bevor die Handlung übernimmt, wissen wir schon von der sadistischen Ader Pearls. Ti West zeigt uns jemanden, der drangsaliert wird und dem etwas mehr Freiheit zu wünschen wäre. Aber auch jemanden, der die eigenen Qualen nach außen weitergibt, der ekstatisch Tiere tötet, (inzestuöse) Spiele mit dem hilflosen Vater spielt und jedem den Tod wünscht, der der eigenen Traumerfüllung im Weg steht.

Dieser Widerspruch ist im Film auch optisch verankert. Die Außenaufnahmen wirken luftig und frisch. Gassen und Innenräume künden mit ihren grellen Farbpaletten jedoch von einer überspannten Weltsicht. Regenrinnen sind dort in Schweinchenrosa lackiert. Der Projektionsraum des Kinos ist in Mintgrün gehalten. Oder es ist die Tapete des Hausflurs, die mit ihrem intensiven Dunkelrot eine höllische Hitze evoziert. Zugleich übernehmen Drastik und Psychothriller das Drama zunehmend. Verbale Auseinandersetzungen werden zunehmend zu geschrienen Anschuldigungen. Mistgabeln werden geschwungen und Leute mit Äxten verfolgt. Gore und Fäulnis drängen in die Bilder.

Ti Wests Kino ist immer ein nostalgisches. Auf den ersten Blick scheint Pearl zwar mit X außer der Protagonistin und der Farm nichts gemein zu haben – West drehte beide Filme back-to-back, um die Kulissen gleich zweimal verwenden zu können. Und doch sind sie durch ihre filmische Verbeugungen verbunden. Auf die Slasher- und 1970er-Porno-Reminiszenzen folgt nun eben ein Psycho-Terror-Technicolor-Melodrama mit Musicaleinlage, das von den 1930ern bis in die 1960er nach Inspirationen sucht. Etwas Die Zwangsjacke (Straight-Jacket, 1964 – mit Joan Crawford als hysterischer Axtmörderin) hier, etwas The Wizard of Oz da. Etwas Psycho (1960) hier, etwas Reise aus der Vergangenheit (Now, Voyager, 1942) da.
Dabei sind die Zitate und der Stil-Pastiche nie Selbstzweck, vielmehr Teil eines lustvollen, geradezu virtuosen Erzählens. Erzählen von einer (filmischen) Vergangenheit, von Beklemmung und Wahnsinn, von einer abermaligen Dopplung. So ist die Mutter eben auch nur eine Gefangene ihrer Lebensentscheidungen, die sie fanatisch und gegen den Selbstverwirklichungsdrang ihrer Tochter verteidigt. Und mit alldem zielt Pearl, bei aller Grellheit und trotz der Neigung, das Drama bis in seine aberwitzige Entstellung zu übertreiben, auf einen simplen emotionalen Kern, auf einen langen, tränenreichen Monolog und ein schreckliches, nachvollziehbares Grinsen. Denn im Kern von Pearl – hinter dem Monströsen – steht etwas ziemlich Einfaches: Schuld, Bedauern, emotionale Verirrung – und die Gewalt, mit der wir manche unsere Lebensentscheidungen schönreden.
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