Paul – Kritik

Neu auf DVD: In Klaus Lemkes Paul (1974) gerät ein Kleinganove zwischen Elbchaussee und Hans-Albers-Platz so sehr außer Kontrolle, dass weder das Drehbuch noch die Kamera ihn halten können.

Zwei Stahltüren werden aufgesperrt, dann ist Paul (Paul Lys) wieder draußen. Im grau melierten Anzug spaziert er ins Freie. Nach sieben Jahren Knast bleibt ihm neben dem Anzug nur noch seine Plastiktüte, in der er alle Habseligkeiten mit sich trägt. Auch von der Kohle, die sein Kumpel Jimmy für ihn aufheben wollte, ist kein Cent übrig. Paul ist nichts geblieben: keine Bleibe, kein Mädel, keine Freunde. Mit dem Leben kommt er gerade so davon, nachdem er einen Killer in seinem Hotelzimmer überwältigen kann. So bleibt Paul in Bewegung, wie ein angeschossenes Raubtier, das so lange rennt, bis es verblutet.

Aufrichtige Irritation

Paul tanzt, trinkt und taumelt durch Hamburg – vom Hans-Albers-Platz zur Elbchaussee. Hier angekommen, stolpert er auf einen roten Teppich, der, ausgerollt vorm idyllischen Elbpanorama, in das Anwesen einer feinen Gesellschaft führt. Über den Teppich robbend, klammert sich Paul an das erste Hosenbein, das er zu fassen kriegt, und schreit laut nach Essen. Noch immer um die Beine der Hamburger Oberschicht gewickelt, lässt er sich ins Haus ziehen. Die Szene eskaliert in betrunkenem Exzess. Und doch scheint alles an der Großzügigkeit der Pfeffersäcke abzuprallen. Paul schreit, lacht, klaut Gläser, zerrt an Anzügen, stiehlt die große Platte mit den Lachshäppchen – vergebens. Seine Performance ist offenkundig der einzige Störfaktor der Vernissage, doch die Hanseaten wollen Paul einfach nicht rauswerfen. In den Gesichtern mischt sich gespielte Entrüstung mit aufrichtiger Irritation. Die Gesellschaft ist sichtbar überwältigt von Pauls Auftritt, weiß nicht, wie sie sich zu ihm verhalten soll. Ob aus Mangel an Zivilcourage oder aufrichtiger Großmütigkeit: Man lässt Paul gewähren. Auch Lemke kann und will diesen Mann gar nicht bändigen. Wo Hauptdarsteller Paul Lys noch in anderen Filmen Lemkes eingegliedert wird – in Rocker von den Laiendarstellern der Motorradgang überstrahlt, in Sylvie als eine von zwei Figuren, die sich zwischen Schauspiel und eigener Persönlichkeit bewegen –, scheint er hier völlig von der Rolle. Paul reißt den Film an sich – ob als Figur oder als Schauspieler, ist nicht mehr erkennbar.

Ausgebrannt

Die cholerische Macho-Energie, mit der Paul sich seinen Weg durch den Film bahnt, erstickt jegliche Plotvorhaben, die Lemke zumindest auf dem Papier einmal entworfen und einem Fernsehredakteur präsentiert haben muss. Angetrieben vom erschnorrten Alkohol torkelt Paul von einer Station zur nächsten: Richtung Knast, Richtung Reeperbahn, Richtung Elbvilla. Die Kamera heftet sich ihm an die Fersen. Lothar E. Stickelbrucks führt sie in der Hand, gleitet dabei nicht sanft um das Geschehen, sondern eckt an, wird in den Strudel der eigenen Eskalation gezogen, zur Seite gedrängt und von tanzenden Trunkenbolden eingekreist. In diesem Sinne ist Paul ein schönes Beispiel dafür, wie ein Film zu einer Performance entgleist, die die eigenen Grenzen im Rausch überwindet.

In der Hemmungslosigkeit, die „Paul“ als Protagonist, als Schauspieler und als Film auslebt, steckt nicht nur die abgründig-überhöhte Härte eines Macho-Arschlochs, sondern eben auch die traurige Wahrhaftigkeit eines echten Verlierers. Paul ist ein BRD-Bukowski, ein guter Kerl, der nie gelernt hat, sich jenseits seiner cholerischen Ausbrüche auszudrücken. In der ursprünglichen Fassung wollte Lemke Paul beenden, indem er die Villa an der Elbchaussee in Brand setzt. Ein kathartisches Ventil, das für den Film so folgerichtig wie für seinen Protagonisten unvorstellbar scheint. So beendet Lemke den Rausch letztlich nicht von außen. Wir sehen nicht, wie ein Haus in Flammen aufgeht, wir sehen, wie sich ein Mann auf der Leinwand zerlegt. Bei jedem Auftritt bleibt ein Stück von ihm zurück. Paul löst sich mit seinem anfangs noch so perfekt sitzenden Anzug auf. Die Krawatte verschwindet, das Hemd reißt auf, das Sakko geht verloren, und schließlich ist auch sein letzter, in der Plastiktüte verborgener Besitz weg. Paul ist ausgebrannt – schnell, schön und glanzlos.

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